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Eine Ehe: nichts als Betrug
Eine Erzählung, die in die Seelen der Menschen leuchtet: »Die Kreutzersonate« von Leo N. Tolstoi
Manche Bücher lesen wir nicht nur ein oder zwei Mal, sondern öfter, angeregt durch neue Literatur, andere Sichtweisen, einen Film, ein Gespräch oder die irgendwann gestellte Frage: Hat dieses Buch uns noch etwas zu sagen, oder ist es längst überholt? Tolstois »Die Kreutzersonate« gehört dazu, diese Erzählung einer verhängnisvollen, düsteren Ehegeschichte aus Russland im 19. Jahrhundert. Ja, man kann, man sollte! Und das nicht deshalb, weil heute mehr als 50 Prozent aller Ehen scheitern (und oft nur statt vor dem Richter beim Therapeuten enden), sondern weil diese Erzählung so abgrundtief, so vielschichtig ist, weil sie in die Seelen der Menschen leuchtet.
Tolstoi stellt zudem die Frage nach Schuld und Schuldigwerden im Geschlechterverhältnis. Ob seine Antworten die richtigen waren, wurde schon seinerzeit bezweifelt. Aber man findet immer Neues darin, das ist das »Geheimnis«. Darum les auch ich sie nun wieder.
Die Erzählung hat eine Rahmenhandlung: In einem Eisenbahnabteil geraten einige Passanten in ein erregtes Gespräch über Ehe, Familie, Scheidung, Bildung der Frauen und »wahre Liebe«. Da mischt sich »ein nervöser Alter mit blitzenden Augen«, der zunächst geschwiegen hat, ein und schockiert die Mitreisenden durch die Äußerung, dass »in unserer Zeit eine Ehe nichts als Betrug« sei, und dann offenbart er ihnen, dass er seine Frau vor Jahren getötet habe. Später bleibt der Erzähler mit dem Alten allein im Abteil zurück. Während der langen nächtlichen Fahrt legt der Gutsbesitzer Posdnyschew eine umfassende Lebensbeichte ab (Das Eisenbahnabteil wird zum Beichtstuhl). In jungen Jahren, so berichtet er, habe er, wie in den oberen Kreisen üblich, ein ausschweifendes Leben geführt und dann später ein achtzehnjähriges, unverdorbenes Mädchen geheiratet mit der Absicht, ein makelloses Familienleben zu führen.
Es kommt anders: die Ehe wird zu einer Folge trostloser, sich zu einem »inneren Drama« steigernder Geschichten. Erster kurzer Verliebtheit folgen Enttäuschung, Gleichgültigkeit, Verbitterung, Hass und krankhafte Eifersucht. Alles wird noch schlimmer im luxuriösen, »verdorbenen« Stadtleben in Moskau. Als schließlich der junge Truchatschewski auftaucht und seine Frau mit dem Geiger zusammen musiziert, spitzt sich der Ehekonflikt weiter zu. Die expressiven Presto-Sätze der »Kreutzersonate« steigern die Leidenschaften. Alles endet in Raserei und Verbrechen.
Soweit die Beichte des Alten. Eingefügt sind lange, die »gute Gesellschaft« schockierende Passagen über Musik, Mode, Ärzte, Sexualität, Enthaltsamkeit, Religiosität und Moral. 1891 entstanden, erhielt die Erzählung des damals schon weltberühmten Tolstoi Veröffentlichungsverbot, seiner Ehe brachte sie das Stigma des »Ehedramas« und seiner Frau Sofia, die ihm zwölf Kinder gebar, den Ruf einer Xanthippe ein. Im Text Maxim Gorkis, der meiner Ausgabe ihrer Tagebücher vorangestellt ist, heißt es: »Gern habe ich sie nie gehabt.« Dabei hat gerade sie sich für eine Veröffentlichung vehement eingesetzt. Dass Tolstois extreme Lebensvorstellungen am Ende hier ihren Niederschlag fanden, ist unzweifelhaft. Wir wissen, er starb 1910 fern von der Familie in Jasnaja Poljana in einem trostlosen Eisenbahn(!)wärterhäuschen.
Ein kaum überschaubares Netz an Literatur, Kunstwerken, Abhandlungen und Verarbeitungen führt hin zur »Kreutzersonate« und wieder von da zurück und zu uns. Fontanes »Effi Briest« wirkt, zumindest in Teilen, noch hell neben der düsteren »Kreutzersonate«. Näher sind die Werke Strindbergs. Da sind aber vor allem die großen Romane Tolstois zu nennen, »Anna Karenina«, »Krieg und Frieden« und »Auferstehung«.
Leider haben die Verfilmungen das Lesen dieser Romane mit ihren vielen Untertönen vielfach verdrängt. Vielleicht lesen wir sie nun auch wieder. Dann sind da die schon genannten privat-intimen Tagebücher der Sofia Andrejewna Tolstaja, die mehr Licht in den Verlauf dieser Ehe brachten, zuletzt die Biografie von U. Keller und N. Sharandak »Ein Leben an der Seite Tolstois«. In jüngster Zeit ist der Roman »Eine Frage der Schuld« von Sofja Tolstaja hinzu gekommen, ein »Glücksfund«, eine Art Autobiografie und ein Gegen- oder Spiegelroman zur »Kreutzersonate«. Das sensible kleine Erzählwerk bestätigt manches und korrigiert Vieles.
Wann also und warum lesen wir ein Buch noch einmal? Margriet de Moors Roman »Kreutzersonate« ließ mich vor einigen Jahren erstmals wieder zu Tolstois Erzählung greifen. Die Autorin überträgt die Eheproblematik in die Gegenwart. Der »Beichtstuhl« ist hier nicht mehr der Eisenbahnwaggon, sondern das Flugzeug, und die Ehegeschichte nimmt einen anderen Verlauf. Aber die Autorin räumt der Musik (Beethoven, Janacek) breiten Raum ein, und der Ehemann, ein Musikkritiker, ist blind!
Ja, es geht besonders um Musik. Ohne sie lesen und verstehen wir auch Tolstojs Erzählung nur unvollkommen. So hole ich mir schließlich beim Wiederlesen Beethovens Kreutzersonate. Yehudi Menuhin spielt. Merkwürdig raffiniert nimmt sein Geigenspiel den dramatischen Prestosätzen etwas von ihrer Düsternis. Ich höre ein intimes Zwiegespräch zwischen Geige und Klavier. Das Spiel hat etwas von Versöhnung. Aber so spielen nur die ganz Großen.
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