Und täglich grüßt die Pharmaindustrie
Initiative unbestechlicher Ärzte will Medizinernachwuchs vor Industrieinteressen warnen
Es war sicher kein Zufall, dass der kritische Ärzteverein seine Versammlung in der Bankenmetropole Frankfurt am Main nicht in einem Nobelhotel, sondern in einer Jugendherberge abhielt. Die Mediziner eint die Erkenntnis, dass sie nicht unvoreingenommen Arzneien verschreiben können, wenn sie zuvor Werbegeschenke, Arzneimittelmuster und Reisen der Pharmaindustrie annahmen.
77 Prozent der praktizierenden Ärzte bekommen wöchentlich und 20 Prozent täglich Besuch von einem Pharmavertreter, der ihnen gezielt die Verschreibung bestimmter Medikamente an ihre Patienten ans Herz legt. Dabei enthalte die Mehrzahl der neuen Präparate »nichts Neues«, so Hedwig Diekwisch von der Bielefelder BUKO-Pharmakampagne über eine Langzeitstudie, die neu auf den Markt kommende Arzneimittel untersuchte. Umso mehr setzten die Hersteller darauf, durch die Erfindung von Krankheiten, versteckte Werbung, die Beeinflussung redaktioneller Texte und die ausgiebige Nutzung von Internetplattformen wie Twitter, Facebook oder Blogs ihre Mittel anzupreisen. Hinter scheinbar neutralen Info-Websites für verliebte Teenager oder um Haarpracht und Potenz besorgte Männer stecke oftmals nur das Interesse, Pharmaprodukte zu verkaufen. Studierende verdienten sich ein Zubrot, wenn sie in Internet-Blogs anonym bestimmte Produkte lobten.
»Woher kommt das alles?«, fragte der Bremer Pharmazeut und Industriekritiker Gerd Glaeske, Mitglied im Sachverständigenrat Gesundheitswesen. Er sprach vom »medizinisch-industriellen Komplex« und den wirkungsvollen Bemühungen von Großverlagen wie Burda und Springer, die sinkenden Anzeigenumsätze durch Kampagnen der zahlungskräftigen Pharmaindustrie mit ihrem riesigen Absatzmarkt auszugleichen: »Ein Euro Werbeausgabe bringt 4,20 Euro Umsatz. Das lohnt sich für die Pharmaindustrie allemal.«
Wer marktschreierisch für bestimmte Produkte werbe, der könne aber nicht unabhängig informieren, so Glaeske weiter. Etliche Ärzte verschrieben deshalb völlig nutzlose Präparate und »sollten sich dafür schämen«, so der Experte, der eine öffentlich geförderte Versorgungsforschung und zudem transparente Vergleiche mit anderen Präparaten gerade auch nach der Zulassung eines Mittels forderte.
In diesem Zusammenhang unterstrich auch MEZIS-Vorstandsmitglied Eckhard Schreiber-Weber, der als Allgemeinarzt im lippischen Bad Salzuflen arbeitet, die MEZIS-Forderung nach vergleichenden Studien über die Wirksamkeit von Arzneimitteln. Diese Studien dürften unter keinen Umständen durch die Pharmakonzerne bezahlt, sondern müssten aus öffentlichen Mitteln finanziert werden. Zudem sollten alle Studien ohne Rücksicht auf einen für die Industrie eventuell nachteiligen Inhalt generell veröffentlicht werden müssen.
Dass von der Pharmaindustrie finanzierte Studien häufiger das gewünschte vorteilhafte Ergebnis erbringen, belegt auch eine Untersuchung des Mainzer Professors Klaus Lieb. »50 Prozent der Arbeiten, darunter viele negative Studien, werden gar nicht publiziert«, erklärt Lieb. Kommerzielle Interessen dürften wissenschaftliche Studien nicht aushöhlen, verlangte er dementsprechend.
Im Zusammenhang mit der Neubesetzung der Spitze des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) forderte MEZIS die Ernennung eines »von der Pharmaindustrie unabhängigen Leiters«. Der bisherige Institutschef Peter Sawicki galt als pharmakritisch. Er wurde unter dem Druck der Bundesregierung kürzlich abgelöst. Dies war öffentlich als Sieg der Klientelpolitik des FDP-Bundesgesundheitsministers Philipp Rösler gewertet worden.
Die unbestechlichen Ärzte von MEZIS setzten sich ebenso gegen jegliche Auflockerung des Verbots von Laienwerbung für verschreibungspflichtige Medikamente und für eine staatliche Preisbindung bei Arzneimitteln ein. Vorstandsmitglied Thomas Lindner, Internist aus Hennigsdorf bei Berlin, kündigte an, den medizinischen Nachwuchs an Universitäten frühzeitig gegen mögliche Bestechungsversuche der Pharmaindustrie zu immunisieren.
MEZIS
Die Abkürzung steht für »Mein Essen zahl ich selbst« und ist eine Initiative unbestechlicher Ärztinnen und Ärzte, die sich nicht von großzügigen Geschenken der Pharmaindustrie beeinflussen lassen wollen und ihr Verschreibungsverhalten am Patientenwohl orientieren. Sie gründete sich 2006 in Bielefeld.
MEZIS (www.mezis.de) hat nach eigenen Angaben 195 Mitglieder und Regionalgruppen in Berlin/Brandenburg und Südniedersachsen. hgö
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