»Guten Morgen, du Arschloch!«
Die Übergriffe auf Bahnmitarbeiter nehmen zu. In Wuppertal gibt es jetzt Deeskalationsseminare
Wuppertal. »Einmal die Fahrausweise bitte.« Unzählige Male hat er diesen Satz schon gesagt. Zum ersten Mal dagegen hört der Zugbegleiter heute als Antwort ein Schimpfwort unter der Gürtellinie. Dann geht alles ganz schnell: Der Fahrgast, der die Beleidigung eben ausgesprochen hat, springt auf, will weglaufen. Der Schaffner reißt jedoch die Hand hoch und stellt sich dem Schwarzfahrer in den Weg.
In diesem Moment ertönt ein lautes »Stopp!« und alle Beteiligten lachen wieder. Verhaltenstrainer Thomas Frick (54) ist eingeschritten und hat die Übung beendet. Die Situation war gestellt: Der Fahrgast ist in Wahrheit ein Mitarbeiter der Deutschen Bahn. Genauso wie sein Kollege, der den Zugbegleiter mimt. Sie befinden sich nicht in einem Zugabteil, sondern in einem Seminarraum mitten in Wuppertal. Dort zeigt Frick Bahnmitarbeitern, wie sie brenzlige Situationen entschärfen können. Seine wichtigste Lektion: Stets einen Fluchtweg offen lassen, damit der Schwarzfahrer sich nicht bedrängt fühlt.
»Die Leute haben überhaupt gar kein Unrechtsbewusstsein mehr«, empört sich Ingo B., einer von Fricks Schülern an diesem Morgen. In seinen 19 Jahren Dienstzeit wurde der 47-Jährige bereits mit Messer und Pistole bedroht. Einmal hat ihn ein Fahrgast so brutal zusammengeschlagen, dass er neun Monate lang nicht arbeiten konnte.
Völlig überfordert
»Früher sind wir in den Zug reingekommen, da haben alle Guten Morgen gesagt. Heute sagen sie auch Guten Morgen, aber Guten Morgen, du Arschloch«, sagt Ingo B. Für viele sei es normal geworden, »uns verbal anzugreifen, zu beleidigen, zu beschimpfen und zu bespucken«. 2009 registrierte die Polizei allein in Nordrhein-Westfalen 181 Körperverletzungen an Mitarbeitern der Deutschen Bahn. Die Dunkelziffer soll höher liegen. Die Bahn reagierte: Sie will bis Oktober rund 3000 ihrer 4800 Zugbegleiter zum »Deeskalationstraining« schicken. Doch vielen Mitarbeitern reicht das nicht. Sie fühlen sich zu wenig unterstützt. Oliver Kaufhold von der Gewerkschaft Transnet sagt: »Viele haben den Eindruck, vom Arbeitgeber völlig alleingelassen zu werden.«
Angesichts immer weiterer Aufgaben fühlen sich Schaffner schlichtweg überfordert, vor allem im Nahverkehr: Auskünfte geben, Rollstuhlfahrern rein- und raushelfen, Durchsagen machen. Dazu kommt die Menge an Zuggästen: In einem voll besetzten Doppelzug finden bis zu 800 Menschen Platz. »Da alleine zu kontrollieren, das geht gar nicht«, sagt Trainer Frick. Die Zugbegleiter fordern daher mehr Personal, auch Sicherheitskräfte, um der Situation Herr zu werden.
Die Bahn sieht da vor allem die Politik gefordert. Wie viele Schaffner pro Zug eingesetzt werden entscheiden Verkehrsverbände, nicht die Bahn, sagt eine DB-Sprecherin. »Leider entscheidet heute zunehmend der Preis, nicht die Qualität über die Vergabe von Verkehrsleistungen.« Kommunalpolitiker lägen hier in der Verantwortung, das nötige Geld locker zu machen.
Trophäen im Internet
»Jugendliche machen sich teilweise einen Sport daraus: Schwarzfahren ist lustig«, beklagt auch Schaffner Thomas Fippinger. Im Internet werden Videos vom respektlosen Umgang mit Zugbegleitern später als Trophäen hochgeladen. Auch Fippinger wurde schon von Jugendlichen bei seiner Arbeit gefilmt. »Ich habe gestaunt wie viele Videos da drin sind. Teilweise wirklich krasse Sachen, wo ein Schaffner massiv veräppelt oder das Abteil verwüstet wurde«, sagt der 41-Jährige. Die Bahn will nun prüfen, inwiefern solche Videos die Persönlichkeitsrechte ihrer Mitarbeiter verletzen.
Trotz aller schlechten Erfahrungen betont Frick aber: »Es sind die wenigsten Fahrgäste, die uns Schwierigkeiten machen, aber die machen es massiv!«
Wir behalten den Überblick!
Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!