Europas letztes Abenteuer
Eine Balkantour von Süd nach Nord und der tiefere Sinn allen Reisens
Der größte Supermarkt auf dem Balkan sei in Sofia eröffnet worden, schrieb ein bulgarisches Boulevardblatt dieser Tage. Stoßen wir uns nicht an dem marktschreierischen Superlativ, erfreuen wir uns des bekennenden politisch-geografischen Selbstbewusstseins.
Balkan. Kaum ein Land in Südosteuropa will das heute noch definitiv sein. Denn Balkan klingt in westlichen Ohren anrüchig. Offizielle Stellen der jugoslawischen Nachfolgestaaten schönen deshalb ihre Länder von Slowenien bis nach Mazedonien schamhaft als Westbalkan. Die Griechen sehen sich ohnehin eher als die Arier der Alten Welt, die Rumänen ob ihrer Sprache lieber als Romanen, die Ungarn meinen, sie gehörten eh nicht dazu. Und die Türken wären/
sind zwar gern Europäer, aber Balkanesen? Dann doch schon lieber gleich Anatolier.
Für Außenstehende mag das alles nicht so ganz verständlich sein. Und das ist auch gut so. Denn die naive Draufsicht des im Normalfall unbedarften Reisenden hat zumindest ein Gutes: Sie erspäht viel mehr Gemeinsamkeiten zwischen den Völkern und Ländern, als die meistens dort unten ob der eigenen nationalstolzen bis -bornierten Sicht selbst wahrhaben wollen.
Apropos Reisende. In der Tourismuswirtschaft aller Balkanländer existiert eine Werbeschnittstelle. Nämlich der Slogan vom letzten Abenteuer Europas. Da dürfte etwas dran sein. Denn es gibt zwar auch viele andere faszinierende Touren auf dem Kontinent, doch die sind eher kalkulierbar als echt spannend. Der Balkan hat noch diese vielen kleinen Überraschungen parat, dieses verblüffende wie liebenswerte Anderssein. Ausgiebig findet hier statt, was Samuel Johnson, Englands nach Shakespeare meist zitierter Autor, als den tiefen Sinn allen Reisens beschrieb: unsere Fantasien durch die Wirklichkeit korrigieren zu können, die Welt zu sehen, wie sie ist, statt uns vorzustellen, wie sie sein könnte.
Macedonia di frutta
Nähern wir uns dem Balkan dafür einmal nicht aus gewohnter eurozentristischer Startposition, also nicht von einem Flugplatz in Berlin, Frankfurt oder München. Stattdessen von Süden. Wer in Italien eine der Adriafähren in Richtung Griechenland nimmt, hat, vielleicht an der Hafenpromenade von Ancona, noch einen »Macedonia di frutta« genascht. Die Bezeichnung für den bekannten Mischobstsalat ist dem Multikultidaseins des Balkans entlehnt; Makedonien war in der Antike der Sammelbegriff für Roms Südosteuropaprovinzen mit ihrem bunten ethnischen Mix.
Die Mischung macht's auch in der heutigen »makedonischen« Realität. Etwa in religions- und kulturhistorischer Hinsicht. Ebenso bei Sprachen, Sitten und Gebräuchen. Natürlich unterstreicht Bruder Theophan vom Kloster Agia Triáda, das zu den hoch in den Felsen klebenden Metéoraklöstern gehört, die Einzigartigkeit von Ort und Orthodoxie. Doch die Realität, das räumt auch der Mönch ein, ist eine andere. Exemplarisch etwas weiter in Thessaloniki. Die Stadt, die auch Selanik (Türkisch), Salónica (Ladino), Solun (Slawisch) heißt, zeigt den ethnische Schmelztiegel namens Balkan wie in einem Brennglas. Geprägt von Christen, Juden und Muslimen, Griechen, Bulgaren, Serben und Mazedoniern.
»Jahrhundertelang leben wir zusammen, und nur ab und an ist es Demagogen gelungen, uns aufeinander zu hetzen«, sagt mir Panagiotes Papafis, der in der Mavlou-Mela-Straße, unweit des Weißen Turms an der Thermaikosbucht, eine kleine Fotogalerie hat. Was seiner Meinung nach den Balkanvölkern allen gemein ist? »Fakelaki vielleicht«, meint er augenzwinkernd. »Das wollt ihr Europäer doch hören, oder?«
Das ist einer der griechischen Ausdrücke für die in Mitteleuropa gewöhnlich als Bakschisch bekannte balkanische Aufmerksamkeit. Alltäglich, aber nicht allgegenwärtig. Weiter nördlich an der Grenze zu Bulgarien, zwischen den Orten Kulata und Petritsch, wird sie nicht erwartet; der Antikorruptionskampf lässt grüßen. Bulgariens gewaltigster Gebirgszug, der Balkan, gab ganz Südosteuropa den immer noch gängigen Namen. Er bezeichnete alle osmanischen Provinzen bis weit hinter Donau und Drau.
Die Bulgaren sind noch bekennende Balkaner, stolz auf ihre fantastische Landschaft, »Gottes letzter und größter Wurf«, wie es in einer nationalen Variante der Schöpfungsgeschichte heißt. Und sie sind pfiffig bis schlitzohrig. Dem hat ihr großer Autor Aleko Konstantinow einst mit in der Figur des Bai Ganjo literarische Gestalt gegeben. Dieser Tage traf ich in Sofia auf einen Nachfahren. »Sdrawei, brate! Weißt Du noch, voriges Jahr in Serbien?«, redete er mich leutselig an, als ich da mit einem Bekannten in einem kleinen, sehr vollen Café saß. Dann zog er mich irgendwie diskret zur Seite und begann sehr plastisch Gegend und Gegebenheit zu schildern, die mir dann sogar vertraut erschienen. Nur: Dieser Mann, wer war er bloß? Ich kam mir schon ignorant und unhöflich vor, als er mich letztendlich – »in alter Freundschaft« – um 150 Lewa anzupumpen versuchte. Mein Freund mutmaßte, der Schnorrer hätte mich wegen meines Akzents als leichtes Opfer aus dem Nachbarland ausgemacht.
Klischees und ihr Kern
Wie einst die Osmanen in Richtung Wien machen wir uns nach Rumänien auf. Allerdings nicht per Kriegsfloß, sondern über die Giurgiu-Russe-Freundschaftsbrücke. Zum drüben erwarteten Klischee gehören die Selbstherrlichkeit und -sucht Ceausescus sowie massenhaft schwarze Bären, Dracula in allen Variationen und an kein Zölibat gebundene, ziemlich weltlich orientierte orthodoxe Priester.
Wie fast alle Klischees haben auch die einen wahren Kern. Dazu braucht man nur kopfschüttelnd den Palast des Volkes in Bukarest zu durchstreifen oder die Warnhinweise am Rande von transsilvanischen Ortschaften bestaunen: »Herumziehende Bären bitte nicht füttern!« Man sollte sich in die Touristenschlange hoch zum Draculaschloss Bran einreihen oder sich in der Kleinstadt Varasti, einem beliebten Radausflugsort nahe der Donau, umhören. In der findet die momentane Berliner Affäre um den Geschäftsführer eines karitativen Vereins, der sich einen Sportwagen des Typs Maserati leistete, auf klerikaler Ebene statt. Der Priester der 6300-Seelengemeinde fährt auch einen. Die Meinung seiner Schafe ist geteilt, reicht von begeisterter Zustimmung bis totaler Empörung.
Balkanische Vielvölkerschaft setzt sich später auch in Ungarn fort. Nur die Amtssprache ist hörbar anders, und die Siebenbürger Sachsen heißen Donauschwaben. So wie sich Rumäniens Hauptstadt einst gern im Euphemismus' eines »Paris des Ostens« sonnte, so tut es Budapest heute noch. Und das, um ganz ehrlich zu sein, ein ganz kleines bisschen mehr zu Recht.
Bakschisch kennt man übrigens auch hier recht gut; Budapest war schließlich fast 200 Jahre lang osmanisch. Für Land und Leute, Burgen, Schlösser und Fahrradwege wird in Ungarn touristisch massiv geworben. In jüngster Zeit auch oft für Zahnarzttourismus. Der Slogan lautet »Let your smile pay for your holiday!« (Sinngemäß: Dein neues Lächeln wiegt die Urlaubskosten allemal auf.)
Führt die Heimreise über Prag nach Berlin, schließt sich übrigens irgendwie der Kreis. Ist doch Berlins Stadtteil Neukölln an einigen Ecken mitunter fast so authentisch Balkan wie die Gegend zwischen Thessaloniki und Budapest. Letztendlich aber dann doch noch nicht ganz so abenteuerlich.
- Infos Griechenland:www.fremdenverkehrsamt.com/griechenland,
- Bulgarien: www.bulgariatravel.org,
- Ungarn: www.ungarn-tourismus.de
- Rumänien: www.rumaenien-tourismus.de,
- ND-Leserreisen, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin, Dr. Irene Kohlmetz, Tel.: (030) 29 78-1621, - 1620, Fax: -1650, E-Mail: i.kohlmetz@nd-online.de
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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