»Was heißt und zu welchem Ende studieren wir Universalgeschichte?«
Anmerkungen zu einer durchaus aktuellen Frage aus dem Mai 1789
Alexander U. Martens
Lesedauer: 10 Min.
Im Jahre 1785 schrieb Friedrich Schiller in Dresden seine berühmte Ode »An die Freude« mit der so schönen Zeile »Alle Menschen werden Brüder«, die spätestens seit ihrer Vertonung in Beethovens 9. Sinfonie zur Tradition bildungsbürgerlicher Sylvesterkonzerte gehört, erst recht natürlich, seit sie Europa-Hymne wurde. Am Rande nur: Aus »Alle Menschen werden Brüder« machte Schiller in der 1786 in seiner Zeitschrift »Thalia« gedruckten Fassung »Bettler werden Fürstenbrüder«; eine zweifellos »politischere«, wenngleich nicht annähernd so zeitlos-visionäre Formulierung, die daher schlecht zum Pathos völkerverbindender Brüderlichkeit getaugt hätte, weswegen sie dann auch schnell wieder vergessen wurde.
Schillers »Alle Menschen werden Brüder« entsprach jenem Verständnis von Humanität, wie es von der Geschichtsphilosophie des 18. Jahrhunderts, besonders in der Zeit des deutschen Idealismus, geprägt wurde. Der Aufklärer Voltaire begriff Geschichte als Fortschritt der Vernunft aus Aberglaube und Barbarei; Kant sah als einzige entwicklungsgeschichtliche Möglichkeit den Fortschritt zu einer »vollkommenen bürgerlichen Vereinigung der Menschengattung«. Und die deutschen Idealisten, wie Fichte oder Hegel oder Herder, suchten nach den Gesetzmäßigkeiten, nach denen sich Geschichte als das Aufeinanderfolgen von Epochen jeweils größerer Vernunft entwickeln sollte.
So also war das Geschichtsverständnis dieser Zeit, als Schiller, auf Vorschlag Goethes, vom Weimarer Hof zum Professor an der Universität Jena ernannt wurde. Am 26. Mai hält er dort seine - später unter dem Titel »Was heißt und zu welchem Ende studieren wir Universalgeschichte?« veröffentlichte - Antrittsvorlesung, aus der ich hier nur wenige Passagen zitiere:
»Ein großer Schritt zur Veredlung ist geschehen, dass die Gesetze tugendhaft sind, wenn auch gleich noch nicht die Menschen. Wo die Zwangspflichten von dem Menschen ablassen, übernehmen ihn die Sitten. Den keine Strafe schreckt und kein Gewissen zügelt, halten jetzt die Gesetze des Anstands und der Ehre in Schranken ...«
»Die europäische Staatengesellschaft scheint in eine große Familie verwandelt. Die Hausgenossen können einander anfeinden, aber hoffentlich nicht mehr zerfleischen.«
»Wie viele Kriege mussten geführt, wie viele Bündnisse geknüpft, zerrissen und wieder aufs Neue geknüpft werden, um endlich Europa zu dem Friedensgrundsatz zu bringen, welcher allein den Staaten wie den Bürgern vergönnt, ihre Aufmerksamkeit auf sich selbst zu richten und ihre Kräfte zu einem verständigen Zwecke zu versammeln.«
Schiller war, bei Gott, nicht der Erste und leider auch nicht der Letzte, der sich gründlich über den künftigen Verlauf der Geschichte täuschte. Nur wenige Wochen nach seiner - im Übrigen von den Studenten enthusiastisch aufgenommenen Jenaer Antrittsvorlesung wird am 14. Juli 1789 in Paris die Bastille erstürmt, und die Menschenrechte werden erklärt. Kurz darauf, in den Jahren 1793 und 94, ertrinkt die französische Revolution so im Blut der oft wahllos Dahingemetzelten, dass für die relativ kurze Zeit jener Schreckensherrschaft der Begriff gefunden wurde, der unsere Welt seither, im zurückliegenden halben Jahrhundert besonders und ganz besonders in den letzten Wochen und Monaten umtreibt: Terror.
Wir sind heute wohl weiter denn je von Schillers universalgeschichtlichen Träumereien entfernt, »alle denkenden Köpfe verknüpfe ein weltbürgerliches Band«. Auch seine Vorstellung einer europäischen Staatengesellschaft, in der man sich allenfalls noch anfeinde, aber wenigstens nicht mehr zerfleische, ist ja noch immer nicht Realität. Von 1789 bis 1914 haben sich die Europäer untereinander häufig bekriegt, in wahrhaft universalen Dimensionen dann in den beiden Weltkriegen. Als von 1945 bis 1989 die Welt in zwei politische Blöcke aufgeteilt war, blieb es, in Europa jedenfalls, weitgehend beim Anfeinden, doch nach 1989, als der Ostblock zusammengebrochen war und der amerikanische Historiker Francis Fukuyama deswegen schon etwas voreilig »Das Ende der Geschichte« vorhersagen wollte, regten sich auf dem Balkan schon bald die nun nicht mehr von der Sowjetunion gewaltsam unterdrückten Nationalgefühle: Schon zerfleischten sich europäische Hausgenossen aufs neue, und wir anderen Hausgenossen haben noch immer unsere Mühe damit, die angerichteten Scherbenhaufen zusammenzukehren und möglichst neue zu verhindern.
Natürlich, der größte Teil Europas hat sich mittlerweile in einer Art friedlicher Staatengesellschaft eingerichtet, fünfzehn Staaten sogar in der Europäischen Union, die freilich noch lange, wie es aussieht, mehr ein wirtschaftlicher denn ein politischer Zusammenschluss bleiben wird, was sich spätestens immer dann beweist, wenn noch nicht einmal diese EU, geschweige denn ganz Europa, fähig oder willens ist, in außen- und sicherheitspolitischen Fragen wenigstens mit einer Stimme zu sprechen.
Immerhin haben wir Deutsche, angestiftet von unserem damaligen »Kanzler der Einheit«, das einzige Nationalsymbol, in dem sich die alte BRD wirklich repräsentiert sah, unsere DM nämlich, auf dem Altar einer unverhofft wieder möglich gewordenen deutschen Einheit geopfert, an die nach über vierzig Jahren der Trennung so recht schon kaum jemand mehr glaubte, und mit der wir uns in der alten BRD wie in der Ex-DDR auch zwölf Jahre danach offenkundig noch immer etwas schwer tun. Dass diese DM der Preis für unsere Einheit wohl sein musste, weil vor allem die Franzosen es so wollten, das kann man, wenn man nicht europäisch denkt, ja vielleicht noch nachvollziehen.
Dass es aber europäisch gedacht sein soll, ein rüstiges Pferd ließe sich am Schwanz aufzäumen, und ein außenpolitisch, sicherheitspolitisch, wirtschaftspolitisch, steuerpolitisch einig Europa werde quasi automatisch schon werden, wenn man aus unterschiedlich starken und schwachen Währungen erst mal eine, wie es momentan aussieht, einheitlich schwache Währung bildet, das leuchtet nicht so recht ein.
Die - so wurde versprochen und wird noch immer behauptet - starke Währung Euro hat schon während ihrer bloß theoretischen Existenz in drei Jahren mehr als 20 Prozent gegenüber dem US-Dollar verloren; daran hat sich leider durch ihre inzwischen wirkliche Existenz nicht viel geändert. Und es bleibt hoffentlich daher nicht das einzig überzeugende Euro-Argument unserer Politiker, mit der Währungsunion entfalle doch der lästige Geldumtausch. Denn ein anderes, ebenso gern bemühtes Argument, dass nämlich Soldaten, die in derselben Währung bezahlt werden, nicht aufeinander schössen, stimmt leider nicht: 1792 wurde in Amerika der Dollar als gemeinsame Währung eingeführt; der amerikanische Sezessionskrieg war von 1861 bis 1865.
Geschichte ist immer Vergangenheit, gleichgültig, ob man nun ihren Verlauf als zweckbestimmt und sinngerichtet auf ein letztlich doch positives Ziel deutet oder ob man alle ihre Deutungsversuche, wie es etwa der Philosoph Theodor Lessing vermutete, für die »Sinngebung des Sinnlosen« hält. An Vergangenheit aber muss man sich erinnern können und wollen. Und schon das Erinnern-Können wird uns zunehmend schwerer gemacht in einer Zeit, die in immer irrwitzigerer Beschleunigung quasi vor sich selbst davonzurennen scheint, in der schon das Heute kaum noch zählt und das Morgen wie das Gestern nur dann noch vorkommt, wenn es sich zweckdienlich instrumentalisieren lässt. Wo soll da noch etwas so Überflüssiges, vielleicht gar störendes wie ein Geschichtsbewusstsein Platz finden?
So gesehen, ist es gar nicht verwunderlich, wenn nach dem 11. September 2001, nach jener entsetzlich perfekt inszenierten, nun wahrlich: »Reality«-TV-Show, bei der die ganze Welt als Publikum zum Zeugen dafür gemacht wurde, wie in wenigen Minuten und durchaus in des Ausdrucks doppelter Bedeutung »aus heiterem Himmel« die Symbole der Finanzmacht und der Militärmacht des unverletzlich scheinenden Riesen USA von ein paar terroristischen Zwergen in Berge von Trümmern und Leichen zerlegt wurden - wenn man nach diesem 11. September als erst mal häufigste Reaktion auf das bisher Unvorstellbare die Floskel eines erschrockenen, hilflosen »Nichts wird mehr so sein, wie es war« zu hören bekam.
Denn natürlich war und ist dies eine Floskel. Man muss sich ja nur ein wenig erinnern: Nichts würde mehr so sein, wie es einmal war, das hat man, um nur ein paar Ereignisse zu nennen, auch gesagt, vielleicht sogar gedacht - nach dem großen Börsencrash 1929,
- nach dem Angriff der Japaner auf Pearl Harbor 1941
- nach der Niederlage Hitler-Deutschlands 1945,
- nach den Atombombenabwürfen über Hiroshima und Nagasaki 1945
- nach der Ermordung J. F. Kennedys 1963
- nach der ersten Öl-Krise 1979
- nach der Reaktor-Katastrophe von Tschernobyl 1986
- nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1989
- nach dem Giftgas-Attentat der Aum-Sekte in der Tokioter U-Bahn 1995.
Und nun eben auch wieder. Selbst in der amerikanischen Film- und Fernsehindustrie, deren computeranimierte Action- und Katastrophenfilme die Fernsehbilder von der nun wirklichen Zerstörung des World Trade Centers oftmals schon vorweggenommen hatten, wollte man nun weniger Gewalt verherrlichen, sollte nichts mehr sein wie zuvor. Unmittelbar nach dem 11. September jedenfalls. Längst vergessen, wie die neuen Produktionen zeigen.
Längst ist die Welt, sind auch wir wieder zur Tagesordnung übergegangen, zum business as usual, wenigstens diejenigen, die nicht mehr unmittelbar von den Folgen des mörderischen Terroraktes betroffen sind. Das heißt, ganz so stimmt das nicht. Denn wir reagieren wenigstens fürs erste, genau mit jener Hysterie, die den »Erfolg« der Terroristen, über die Toten und Verletzten und über allen materiellen Schaden hinaus, erst wirklich ausmacht.
Ob in den USA oder im übrigen demokratischen Westen, vom zumeist noch immer nicht ganz so demokratischen Osten ganz zu schweigen: Wir sollen uns jetzt aus Sicherheitsgründen unsere freiheitlichen Rechte - die in den USA schon immer Grundlage der Verfassung waren, bei uns immerhin seit einem halben Jahrhundert, und für die der freie Westen schließlich überall in der Welt einzutreten willens ist - so beschneiden lassen, als wären wir alle latente Terroristen. Da liegt der Gedanke nahe, den Bundesverfassungsrichter Wolfgang Hoffmann-Riehm kürzlich so formulierte: »Die terroristische Bedrohung führt den Staat in Versuchung, jetzt das zu tun, was er schon immer tun wollte, aber aus rechtsstaatlichen Gründen bisher nicht tun durfte«. Damit ist natürlich nicht das mehr oder weniger lächerliche Wegnehmen von Nagelscheren aus dem Fluggepäck gemeint, wohl aber der absehbare Verlust z. B. unseres Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung, das im Zeitalter zunehmenden elektronischen Datenflusses schon im ganz normalen Leben ohnehin schon löchrig genug ist.
Insofern scheint mir die Vorhersage des US-Präsidenten Bush, »das nächste Jahr wird ein Kriegsjahr«, mit der er kurz vor Weihnachten, am 23. Dezember, die Öffentlichkeit konfrontierte, höchst bedenklich und beunruhigend. Denn hätte George W. Bush Recht und würden die USA, gleichviel ob dann mit eingeschränkter oder weiterhin uneingeschränkter britischer, deutscher, europäischer Solidarität, gleichviel ob mit oder ohne UNO-Mandat, gleichviel ob allein oder in welch fragwürdiger Allianz gegen den Terror auch immer, tatsächlich ihren Krieg gegen den Terror über Afghanistan hinaus ausweiten, dann hätte möglicherweise auch der französische Philosoph Jean Baudrillard Recht, der (im Spiegel 3/2002) einen »vierten Weltkrieg« sich entwickeln sieht, »nicht mehr zwischen Völkern, Staaten, Systemen und Ideologien, sondern der Gattung Mensch mit sich selbst«.
Wann, wenn nicht endlich nach diesem 11. September 2001, wäre seit langem ein drängender Moment gewesen, sich 212 Jahre nach Schiller wieder die Frage zu stellen, was Universalgeschichte heißt. Sind wir tatsächlich allein die Guten und Zivilisierten und alle anderen, die nicht nach unserer Fasson glücklich werden wollen, die Bösen? Und warum gibt es so viele, die umgekehrt uns als die Bösen sehen? Und wann sind mörderische Gewalttäter Terroristen oder Freiheitskämpfer oder Widerständler?
Wie lange wird es uns wohl noch erlaubt, die Augen davor zu verschließen, dass der Zusammenbruch des Sozialismus und der daraus resultierende Siegeszug des nunmehr ungebremsten Kapitalismus, in dem die Gier nach Geld alle anderen gesellschaftlichen Wertmaßstäbe zu verdrängen scheint, die Welt eben nicht besser gemacht hat,
- dass die Globalisierung, so wie wir sie erfahren, nichts anderes als die Fortsetzung von Imperialismus und Kolonialismus mit anderen Mitteln ist,
- dass die Schere zwischen Arm und Reich überall auf der Welt, auch bei uns, immer weiter auseinander klafft,
- dass etwa 25 Prozent der Weltbevölkerung etwa 85 Prozent der Ressourcen dieser Welt für sich beanspruchen,
- dass nahezu alle Staaten dieser Welt zu Geißeln weniger Öl-Staaten geworden sind,
- dass wir Lateinamerika und Afrika ungerührt ihrem Schicksal überlassen, wenn wir dort keine einträglichen Geschäfte mehr machen können,
- dass noch immer 250 Millionen Kinder in aller Welt im Alter von bis zu vierzehn Jahren arbeiten müssen,
- dass ein beängstigend großer Teil der Weltbevölkerung sich noch nicht einmal satt essen kann,
- dass der seit Jahren ungelöste und sich immer mehr zuspitzende Nahostkonflikt, der inzwischen nichts anderes mehr als die Frage nach den Rechten der Palästinenser ist, zumindest mit ein Anlass für die Terroranschläge in New York und Washington war,
- dass es seit 1990 nur noch ein Machtmonopol in dieser Welt gibt, das die jeweils geltenden Spielregeln nur noch nach seinem Gusto festlegt, und als dessen Marionetten wir alle mehr oder freiwillig funktionieren. Nicht nur im derzeitigen »Krieg gegen den Terror«.
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