Zwischen Pluralismus und Proporz
Viele Strömungen und Arbeitsgemeinschaften ringen in der LINKEN um Einfluss
Januar 2010, die Linkspartei steckt in der Krise: Oskar Lafontaine ist krank, Vorwürfe gegen den Bundesgeschäftsführer machen die Runde. Ein Richtungsstreit, geführt als Personaldebatte, lähmt die Partei. In Berlin sind 700 Anhänger und viele Presseleute zum Jahresauftakt in die Kongresshalle gekommen. Die einen wollen wissen, wie es weitergehen soll. Die anderen lauern auf eine Schlagzeile. Alle bekommen, worauf sie warten.
Es waren jene Tage, in denen der Streit um Dietmar Bartsch die Partei zerrüttete. Und deshalb kein Zufall, dass Gregor Gysi an jenem Tag diese Anekdote erzählte. Genossen hätten ihm berichtet, dass sie zwar Mitglieder einer der parteiinternen Strömungen sind, dies aber in ihrem Landesverband nicht offen sagen könnten, weil »sofort ein Feindbild gegen sie« entstehen würde. Und die Chancen auf ein Amt oder eine Kandidatur wären dann auch dahin. »Ich bitte euch«, ruft Gysi in den Saal. »Wo leben wir denn hier eigentlich?«
Warnungen vor Schubladendenken
In der Linkspartei. Strömungen gehörten schon zum Inventar, als die PDS noch den Zusatz SED trug. Angefangen hat alles am vorletzten Tag des Wendejahres 1989. Am 30. Dezember gründete sich die Kommunistische Plattform, eine Woche später gab es einen »Sozialdemokratischen Studienkreis«. Eine Partei, der das bisher als Teufelszeug galt, entdeckte den Pluralismus und tat, was seit Jahrzehnten regelrecht verboten war: Sie ließ zu, dass sich Fraktionen bildeten, Arbeitsgemeinschaften, Plattformen.
Heute gibt es in der fusionierten LINKEN 25 Zusammenschlüsse, die den Kriterien der Satzung entsprechen, weitere 15 erfüllen die Anforderungen an Mitgliederstärke und regionale Verbreitung nicht. Es gibt Expertenzirkel, Themenspezialisten, Traditionsvereine. Und natürlich die politischen Strömungen – einsortiert in ein Koordinatensystem, das zwar rechts und links unterscheidet, damit aber nur selten ihren richtigen Ort bestimmt.
Jede der Suborganisationen sei wichtig, sagt Gregor Gysi. »Aber die Strömungen sind nur eine Minderheit.« Trotzdem ist ihr Einfluss auf die programmatischen Debatten, auf die Außenwirkung der LINKEN, auf die Vergabe von Kandidaturen und Ämter enorm. Kaum ein Pressebericht, der nicht auf den Lagerkampf zwischen Realos und Fundis zu sprechen kommt. Kaum ein Personalkompromiss, der nicht die Strömungsvielfalt in der Partei ausbalancieren muss.
So liegt das Gute, der Pluralismus, dem Schlechten sehr nahe: Strömungen agieren oft mit Blick auf die Verteilung von Ressourcen, sie sind Hebel innerparteilicher Macht. Manche sprechen von einer Parallelwelt, und immer wieder hat ihre Existenz zu Debatten geführt. Mal ging es um Besserwisserei, mal um Parteitagsmandate, mal um Geld. Nun, da die LINKE vor einer Zäsur steht, da ihr Gründungsvorschuss zur Neige geht und neues Spitzenpersonal eine schwierige Selbstfindung moderieren muss, geht die Diskussion bisweilen einen Schritt weiter.
Die Skepsis über den Einfluss, den die Flügelorganisationen beanspruchen, ist auch bei Oskar Lafontaine nicht zu überhören. »Wenn über die Richtigkeit oder Falschheit einer Strategie geurteilt wird, dann entscheiden nicht Strömungen«, sagt er. Sondern die Wähler. Und die Parlamentarische Geschäftsführerin im Bundestag fragt sich, »ob wir mit unseren vielen Arbeitsgemeinschaften, Foren und Plattformen richtig liegen oder ob das nicht einem Schubladendenken Vorschub leistet«. Dagmar Enkelmann gibt sich gleich selbst die Antwort: »Meines Erachtens verhindert das, dass wir aufeinander zugehen.«
So etwas hört man in letzter Zeit häufiger. Es ist die Begleitmusik zur Lage einer Partei, die oft eher wie ein Bündnis erscheint. Und in der den Protagonisten manche Episode im Flügelstreit inzwischen selbst ein wenig unheimlich zu sein scheint.
Kungelei um Posten und Mandate
Von einem »gewissen Maß an Undurchschaubarkeit« sprechen übereinstimmend die Bundestagsabgeordneten Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke, Stefan Liebich und Thomas Nord, Vertreter der Sozialistischen Linken beziehungsweise des Forums demokratischer Sozialismus, die sich sonst gern einmal einen Schlagabtausch liefern. Das Agieren der Strömungen in der Partei könne derzeit nicht befriedigen, heißt es bei der Emanzipatorischen Linken. Aus dem Umfeld des Marxistischen Forums drang die Mahnung nach mehr Gleichberechtigung. Und Thies Gleiss von der Antikapitalistischen Linken verband unlängst ein Plädoyer für eine neue Debattenkultur mit dem kritischen Urteil, die parteiinternen Strömungen »degenerieren immer schneller zu schnöden Interessengemeinschaften, die den Kampf um persönliche Karrieren und Parlamentsposten erleichtern sollen«.
So soll es nicht bleiben. Bereits im vergangenen Oktober hat der LINKEN-Vorstand eine »Parteidebatte« angestoßen. Einige der »Fragen und Probleme« betreffen denn auch die Flügelorganisationen. Gemeinsam müsse geklärt werden, heißt es in einem Konzept für die Diskussion, inwieweit die Zusammenschlüsse eher »Plattformen für Klientelpolitik oder Organisationsform zur Politikentwicklung der Gesamtpartei« sein sollen. Es wird um formale Fragen wie die Mittelzuweisung und die Mandatsvergabe gehen. Und um »das Wechselspiel von Vorständen und Zusammenschlüssen«.
Dass für den Personalkompromiss zur neuen LINKEN-Führung eine Art strömungspolitisches Betätigungsverbot ausgesprochen wurde, mag ein erster Schritt auf dem Weg sein. Ob es einer in die richtige Richtung ist, wird sich noch zeigen. »Ein bisschen vertreten sein sollen schon alle«, hat Gregor Gysi im Januar gesagt. Wirklicher Pluralismus verlange aber doch etwas mehr als Proporz. Da haben sie sehr geklatscht, die 700 Anhänger der LINKEN in der Berliner Kongresshalle.
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