Thema: Atomwaffenkonzept der USA
US-Präsident Barack Obamas Nuklearpolitik und die NATO
Deutschlands Außenminister, Guido Westerwelle, ist und bleibt ein Minister ohne Fortune. Er erleidet derzeit den nächsten politischen Rückschlag. Seinem Vorhaben, in Gesprächen über das künftige Strategische Konzept der NATO einen Abzug der letzten verbliebenen Nuklearwaffen aus Europa durchzusetzen, droht ein jähes Ende. Ganz so wie 1998 der Idee seines Vorgängers Joschka Fischer, der versuchte, die NATO auf einen Ersteinsatzverzicht für Nuklearwaffen einzuschwören.
Ironischerweise steht beiden Außenministern dieselbe US-amerikanische Politikerin im Wege: Madeleine Albright, unter Präsident Bill Clinton Außenministerin, ist heute Vorsitzende der Expertengruppe für das neue strategische Konzept der NAT0. Sie wird in Kürze Anders Fogh Rasmussen, dem Generalsekretär der Allianz, einen Bericht mit Empfehlungen für die künftige NATO-Strategie überreichen. Die Empfehlung, auf die letzten in Europa stationierten Nuklearwaffen zu verzichten, wird in ihrem Bericht nicht enthalten sein.
Westerwelle rudert schon zurück
Albright wird dem Vernehmen nach vorschlagen, diese Waffen vorläufig in Europa zu belassen. Sie sollen zum Gegenstand von Gesprächen mit Russland über weitere Schritte zur Nuklearabrüstung gemacht werden. Hillary Clinton, die Außenministerin der USA, argumentiert auf der gleichen Linie: »Bei allen künftigen Reduzierungen sollte es unser Ziel sein, (...) die nichtstrategischen Nuklearwaffen in die nächste Runde amerikanisch-russischer Abrüstungsdiskussionen einzubeziehen, zusammen mit den nicht stationierten strategischen Nuklearwaffen«, erklärte Clinton den NATO-Außenministern in Tallinn am 22. April.
Diese Sichtweise findet sich auch im neuen »Nuclear Posture Review«. Guido Westerwelle relativierte daraufhin seine Abzugsforderung: »Niemand hat je die Devise ausgegeben, dass dies in wenigen Jahren erreichbar wäre. Keiner ist naiv.«
Neue Modelle, neue Milliarden
Der NPR sieht eine Modernisierung der sub-strategischen Nuklearwaffen vor. Begründet wird auch dieses Vorhaben mit Barack Obamas Prager Rede: »Solange es diese Waffen gibt, werden die Vereinigten Staaten ein sicheres und wirksames Arsenal zur Abschreckung potenzieller Feinde aufrechterhalten und die Verteidigung ihrer Verbündeten garantieren.« Oder in Außenministerin Clintons Worten beim NATO-Treffen in Tallinn: »Solange Nuklearwaffen existieren, wird die NATO eine nukleare Allianz bleiben.«
Vorgesehen ist eine Modernisierung der beiden wesentlichen Komponenten: Für die nuklearfähigen F-16- und F-15E-Jagdbomber der US-Luftwaffe soll ein Nachfolger entwickelt werden, eine doppelt verwendbare Version des Joint Strike Fighters (JSF). Die in fünf europäischen Staaten, darunter in Deutschland gelagerten US-Atombomben der Versionen B-61-3 und B-61-4 sollen gründlich modernisiert werden. Gemeinsam mit der strategischen Version B-61-7 und einer weiteren taktischen Version, der B-61-10, sollen sie durch ein neues Modell, die B-61-12 abgelöst werden, über das der Kongress bereits im vergangenen Jahr heftig stritt.
Fast 2 Milliarden US-Dollar sind derzeit für die Haushaltsjahre 2011 bis 2015 für eine Machbarkeitsstudie und den Einstieg in die Entwicklung der neuen Version eingestellt. Weitere Milliarden müssen in den Jahren danach fließen, denn erst ab 2018 kann die neue Bombe als Bewaffnung für Jagdbomber und Langstreckenbomber hergestellt werden. Mit ihr würde der bisher bestehende Unterschied zwischen taktischen und strategischen Versionen der B-61 hinfällig.
Die als Lebensdauerverlängerung bezeichnete Maßnahme ist jedoch weit mehr, als der Name verrät. Vorgesehen ist eine Modernisierung der meisten nichtnuklearen Komponenten. Nach gesonderter Autorisierung durch den US-Präsidenten ist auch eine Überarbeitung der nuklearen Komponenten, des sogenannten »physics package« möglich, vorausgesetzt, dass dadurch entweder die Sicherheit oder die Funktionssicherheit gesteigert bzw. die Notwendigkeit nuklearen Testens verringert werden kann.
Unterschiede zu den Plänen für eine neue Generation verlässlicher Ersatzsprengköpfe (RRWs), die Verteidigungsminister Robert Gates und der Chef der zuständigen NNSA, Thomas d’Agostino, unter George W. Bush verfolgten, sind kaum auszumachen. Barack Obamas Vorgabe, keine neuen Nuklearwaffen, keine Nuklearwaffen mit neuen Fähigkeiten und keine Atomwaffen für neue Aufgaben zu entwickeln steht mit diesem Vorhaben auf dem Prüfstand.
»Alle Optionen« bleiben offen
Mit diesen Entscheidungen werde sichergestellt, dass »die USA die Fähigkeit beibehalten, Nuklearwaffen in Erfüllung ihrer Bündnisverpflichtungen vorgeschoben zu stationieren«, hält der NPR fest. Diese »nimmt die Ergebnisse künftiger Entscheidungen in der NATO über die Notwendigkeit der nuklearen Abschreckung und der nuklearen Teilhabe nicht vorweg«, sondern halte »alle Optionen offen«. Washington stelle seinen Alliierten einen »glaubwürdigen US-Nuklearschirm« bereit, der aus den »strategischen Kräften der Triade, vorgeschoben-stationierten Nuklearwaffen in Schlüsselregionen und Nuklearwaffen in den USA besteht, die schnell vorgeschoben stationiert werden können«. Auch wenn die Gefahr eines nuklearen Angriffs sich auf »einem historischen Tiefstand« befínde, trage »die Präsenz von US-Nuklearwaffen in Verbindung mit den einzigartigen Arrangements der nuklearen Teilhabe (...) zum Zusammenhalt der Allianz bei« und stelle »eine Rückversicherung für Verbündete und Partner dar, die sich regionalen Bedrohungen ausgesetzt fühlen«. Änderungen sollen nur nach Diskussion in und »auf Entscheidung der Allianz« erfolgen. Das erfordert Einstimmigkeit und gibt jedem NATO-Mitglied die Möglichkeit, einen Abzug der Nuklearwaffen aus Europa durch sein Veto zu verhindern. Die Modernisierung von Trägerflugzeugen und nuklearen Bomben soll unabhängig davon erfolgen, wie die NATO sich entscheidet.
Verbesserte regionale Sicherheitsarchitekturen, zu denen eine effiziente Raketenverteidigung, Fähigkeiten, den Einsatz von Massenvernichtungswaffen zu bekämpfen, konventionelle Fähigkeiten zur Machtprojektion und eine integrierte Kommandostruktur gehören, seien »entscheidend, wenn man sich auf eine Welt ohne Nuklearwaffen zubewegt«.
Diese Verknüpfung hatte sich bereits im Ballistic Missile Defense Review (BMDR) angedeutet, einem weiteren aktuellen Planungspapier aus dem Pentagon. Dort stellte die Regierung Obama ausführlich dar, wie sie sich den stufenweisen Ausbau einer Raketenabwehr in Europa im kommenden Jahrzehnt vorstellt. Im BMDR wird für eine europäische Raketenabwehr geworben: »Gegen nuklear bewaffnete Staaten wird die regionale Abschreckung notwendigerweise auch [künftig] eine nukleare Komponente erfordern. Aber die Rolle der US-Atomwaffen in diesen regionalen Abschreckungsstrukturen kann durch eine Stärkung der Rolle der Raketenabwehr und anderer Fähigkeiten reduziert werden.«
Zur Erinnerung: Seit George W. Bushs »Nuclear Posture Review« 2002 sind die Raketenabwehr und die Fähigkeit zu raschen konventionellen strategischen Angriffen auf Ziele rund um den Globus (Prompt Global Strikes) Bestandteil der Gesamtabschreckung. Obamas NPR und der BMDR befürworten beides explizit. Letzteren wird unter Obama die Aufgabe zugewiesen, einige Aufgaben zu übernehmen, für die sich die Regierung Bush die nukleare Option offen hielt: die Reaktion auf Angriffe mit B- und C-Waffen oder auf Versuche nichtstaatlicher Akteure, zu Terrorzwecken an nukleares Material oder nukleare Waffen zu gelangen.
Unter Obama wird das Konzept einer Gesamtabschreckung auf regionale Abschreckungssysteme, also auf Europa und die NATO, den Nahen und Mittleren Osten und den Fernen Osten übertragen. Das bringt Konsequenzen mit sich, positive wie negative. Positiv ist die Reduzierung der Rolle und der Zahl atomarer Waffen, die angestrebt wird. Da auch Japan zustimmte, wurde die im NPR angekündigte Außerdienststellung der letzten seegestützten nuklearen Marschflugkörper möglich.
Europa wird in einen Disput hineingezogen
Problematisch sind dagegen etliche andere Aspekte: Wird eine weitere Reduzierung der Zahl und der Rolle nuklearer Waffen in der NATO vom vorherigen Aufbau einer Raketenabwehr der USA und der NATO in Europa abhängig gemacht, so könnten die europäischen NATO-Staaten tief in den russisch-amerikanischen Disput über die US-Raketenabwehr und deren Risiken für die strategische Stabilität hineingezogen werden. Das ist eine Aussicht, die den meisten europäischen Staaten nicht gelegen kommen kann. Russland wird auf Dauer auch die modifizierte Raketenabwehr der USA kaum akzeptieren können. Spätestens in der vierten Phase des Aufbaus der umstrukturierten Raketenabwehr ab 2018/20 sieht auch Obamas Konzept die Stationierung von Abfangraketen gegen Interkontinentalraketen »im Norden Europas« vor. Moskau dürfte darin erneut eine Gefährdung seiner Abschreckungsfähigkeit sehen oder das Vorhaben gar als Indiz für eine geheime Erstschlagsplanung der USA werten.
Zudem enthält das veränderte Raketenabwehrkonzept eine neue problematische Komponente. Im BMDR wird angekündigt, dass die USA Technologien zum »frühzeitigen Abfangen« gegnerischer Raketen entwickeln wollen. Dieses Teilkonzept wird als »Early Intercept« bezeichnet. Gemeint sind Technologien, mit denen gegnerische Raketen schon kurz nach dem Start oder sogar noch bevor sie abgeschossen wurden, zerstört werden können. Mit anderen Worten: Technologien, die in der NATO eine neue Diskussion über präventive Einsätze auslösen dürften.
Wenn der Aufbau größerer konventioneller Angriffsfähigkeiten zur Voraussetzung für nukleare Abrüstung gemacht wird, so ist das ebenfalls problematisch. Zum einen könnte Russland solche Fähigkeiten als weiteren Teil einer Erstschlagskonzeption werten. Zum anderen wäre unklar, ob die NATO sich in das Konzept der Prompt Global Strikes einbinden lässt. Die Gefahr besteht, dass hieraus ein grundsätzliches Hindernis für nukleare Abrüstung in Europa wird.
Noch komplexer ist ein anderes Problem: Wird die NATO als regionales Abschreckungssystem mit regionaler Sicherheitsarchitektur betrachtet, so muss das in Europa ungute Erinnerungen an die NATO-Diskussion der 70er Jahre wachrufen. Damals wollten gerade die europäischen NATO-Staaten kein regionales Abschreckungssystem, um sicherzustellen, dass die globale Abschreckung unteilbar war. Sie fürchteten, ein regionaler, auf Europa begrenzbarer Nuklearkrieg werde sonst denkbar. Dass solche Überlegungen auch heute in Washington noch existieren, bewies der ehemaligen Verteidigungsminister James Schlesinger Ende 2008. In einer ausführlichen Studie für das Pentagon befürwortete er mit Blick auf die erweiterte (also regionale) Abschreckung eine Wiederbelebung des Konzeptes der begrenzten nuklearen Optionen, der Limited Nuclear Options. Mit genau diesem Konzept hatte Schlesinger als Verteidigungsminister Mitte der 70er Jahre die Befürchtungen über einen begrenzten Atomkrieg mit ausgelöst.
Eine jahrelange Hängepartie droht
Schließlich droht mit der Ankündigung, einen Abzug der nichtstrategischen Nuklearwaffen aus Europa von Verhandlungen mit Russland abhängig zu machen, möglicherweise eine jahrelange Hängepartie. Es kann Washington und seinen NATO-Partnern nicht entgangen sein, dass Moskau seit Jahren über diese Waffen erst dann reden will, wenn die USA sie auf ihrem eigenen Territorium lagern. So entsteht nur ein neues diplomatisches Mikadospiel: Wer sich zuerst bewegt, hat verloren.
Klar wird: Die gegenwärtig in New York tagende Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag erhält kein starkes positives Abrüstungssignal. Weder durch den NPR noch durch den neuen START-Vertrag und auch nicht seitens der NATO. Mangelnder Fortschritt bei der Abrüstung bedeutet aber wohl auch mangelnden Fortschritt bei der Verhinderung von Weiterverbreitung. Kein gutes Omen für New York.
Otfried Nassauer ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit – BITS.
Den ersten Teil seiner Betrachtungen zur Atomwaffenpolitik Barack Obamas – »Drei Schritte vor und mindestens zwei zurück« – veröffentlichte ND am 24. April.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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