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Das Elend von Berlin
Manchmal ist Berlin eine einzige Bühne für das Elend der Welt.
An der Straßenbahnhaltestelle steht wieder der Mann in seinem Rollstuhl, beide Füße dick verbunden, und versucht unverdrossen, Kontakte zu anderen Fahrgästen herzustellen. Er hat da ein Schema. Meist wagt er nach dem ersten Wortwechsel eine Prognose, aus welcher deutschen Weltgegend der Gesprächspartner stammen könnte. Mich hat er in Halle/Leipzig verortet, was ich als leicht kränkend empfand. Alle sind, soweit ich das beurteilen kann, freundlich zu ihm. Aber seinem offenkundigen Problem, dem Alleinsein, können wir nicht abhelfen. Beim Aussteigen, wenn er noch weiterfährt, ein Winken. Das ist es. Aber das ist es eigentlich nicht.
Auf dem Fußweg zur S-Bahn fragt mich ein keineswegs ärmlich gekleideter Mann, ob ich rauche. Ich verneine wahrheitsgemäß, verstehe aber die Frage nicht. Doch der Mann hat schon die Nächsten in seine Aktion einbezogen. Und als sich eine Frau als Raucherin zu erkennen gibt, bettelt er um eine Zigarette, die er, etwas widerwillig, auch bekommt. Die Umstehenden tauschen Zeichen der Ratlosigkeit aus. Muss man es soweit mit sich kommen lassen? Andererseits: An der Weitergabe einer Zigarette geht keiner zugrunde, der noch eine ganze Schachtel in der Tasche hat.
Die S-Bahn nach Spandau ist sehr gut besetzt, als sich drei jüngere Leute hineinzwängen, zwei Männer, eine Frau. Sie verschaffen sich heftig Platz für ihre Instrumente, und die junge Frau kündigt unverzüglich die Darbietung irischer Folklore an. Es regnet auch an diesem Tage in Berlin, da ist die S-Bahn ein besonders reizvoller Ort. Und wir sind noch früh am Vormittag.
Der Bedarf an irischer Folklore hält sich in massiven Grenzen. Aber dann legen die Drei los, gekonnt und mit solch wirklicher oder gespielter Begeisterung, dass selbst Schläfrige aufmerksam werden. Die Frau kassiert nach der gut getimten Einlage, sie schaffen den Ausstieg an der nächsten Station, mit ihrem Hut. Immerhin sind es am Ende fünf in unserem Abteil, die etwas geben. Obwohl es sich bei solchen Vorführungen um eine Form der Nötigung handelt. Ich kann auch keinen bedrängen, meine Artikel zu drucken, indem ich sie dem Chefredakteur zu früher Stunde laut vorlese.
Dann der nächste Angriff. Plötzlich stehen zwei Männer offenbar südosteuropäischer Herkunft in der Bahn, bewaffnet mit einer Klarinette und zwei kleinen Trommeln. Ankündigungslos setzen sie ein, und es klingt gar nicht gut, um nicht zu sagen: Es ist völlig kunstlos. Aber bereits nach ein paar Takten steht ein höchstens fünfjähriges und übernächtigt wirkendes Mädchen vor der gegenüberliegenden Sitzreihe und hält einen leeren Trinkbecher hin. Was jetzt? Die Männer in der Reihe schalten in jeder Bedeutung des Wortes auf Durchgang. Die Frauen sind hin und her gerissen. Ich finde zunächst, dass man solchen Missbrauchsfällen wenigstens durch Zahlungsverweigerung Einhalt gebieten muss. Andererseits: Vielleicht hilft es auch dem Kind, wenn man etwas gibt? Das mache ich schließlich und bleibe die einzige.
Die Blicke der Männer muss man als missbilligend bezeichnen und sie werden höhnisch, als der S-Bahnfahrer später bittet, auf seine Sachen zu achten, es gingen als Musiker getarnte Leute durch … Bis Spandau verkraften wir noch zwei Verkäufer von Straßenzeitungen, die stieren Blicks einen gelernten Text vortragen. Und einen »richtigen« Bettler. Sie alle bekommen von keinem etwas.
Wieder in meinem Kiez, lächelt mich vor der Kaufhalle geübt die rumänische Verkäuferin der Obdachlosenzeitung »Straßenfeger« an. Sie spricht kein Wort Deutsch, würde also auch jede Nazi-Zeitung verkaufen, und ist abgerichtet auf Gesten. Die Frage nach dem Preis beantwortet sie mit einem Fingerzeig auf die Titelseite, wo er aufgedruckt ist.
Manchmal, wenn das Wetter schlecht ist, setzt sie sich auf den kleinen Tisch vorn in der Halle und nickt ein. Die Zeitungen immer vorbildlich so haltend, wie man es ihr beigebracht hat.
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