Krisendichter im Kultursterben
»I am Andrej Bely« ist eines der letzten Stücke im Theater Eigenreich
Als in Europa alle Großmächte 1914 siegesgewiss in den Weltkrieg zogen und sich selbst avantgardistische Expressionisten freiwillig zum Frontdienst meldeten, da wendete sich der russische Dichter Andrej Bely dem Anthroposophen Rudolf Steiner zu. Im Schweizer Dornach wirkte er bei der Errichtung des Goetheanums mit. Bely gilt als Wegbereiter des russischen Symbolismus. Sein Weltbild war von vielen Einflüssen geprägt, Nietzsche und Schopenhauer gehörten ebenso dazu wie der Buddhismus. Bely ist also nicht leicht zu erfassen.
»I am Andrej Bely« heißt das Stück, das am Sonntag im Theater Eigenreich Premiere feierte, und die freie Theatergruppe Amador schält mit der Inszenierung eine Facette nach der anderen aus der Dichterbiografie heraus: ein Streit mit seiner Ehefrau Assja Turgenieff, ein versöhnlicher Brief, ein Albtraum, Reisen nach Europa und die Rückkehr in die junge Sowjetunion. Zwei Jahre schrieb Richard Ramsbotham an dem Stück; auf der Bühne spielt er selbst den krisengeschüttelten Dichter.
»Die Seele kann nicht wie ein Orang-Utang leben«, lautet der Untertitel der Inszenierung, und er passt zur Spielstätte, denn auch das Eigenreich befindet sich in einer bedrohlichen Lage: Schon seit längerem ist das Theater im zweiten Hinterhof der Greifswalder Straße 212 der einzige Mieter, nun flatterte zum 30. September die Kündigung ins Haus. »Die Zeichen stehen auf Abschied«, sagt Verena Drosner vom Verein Eigenreich. Das Gebäude soll umfangreich saniert werden.
Bislang reagieren die Theaterschaffenden darauf gelassen, denn so recht mag keiner glauben, dass der Verlust der Spielstätte auch das Ende ihrer gemeinsamen Arbeit gewesen sein soll. Als Absolventen der Schauspielschule Ernst Busch schlossen sie sich vor fünf Jahren mit Musikern und Technikern zusammen, um ein eigenes Theater auf die Beine zu stellen. 24 Produktionen führten sie seitdem auf; hinzu kamen Gastspiele anderer Gruppen.
Nun steht das Theater vor einer Zäsur. »Eigenreich geht überall«, heißt es hoffnungsvoll im Juni-Programm; mit der Suche nach einer neuen Bleibe hat die Gruppe bereits begonnen. Zeitgleich plant sie eine letzte Produktion an ihrer bisherigen Wirkungsstätte. »Abgesang« heißt die Inszenierung und rollt noch einmal die Geschichte der Greifswalder Straße 212 vor der Totalsanierung auf.
Anfang des letzten Jahrhunderts baute der jüdische Unternehmer Szlama Rochmann eine Zigarettenfabrik auf. In den 20er Jahren expandierte er und ließ den Tabakspeicher anbauen, in dem jetzt das Eigenreich residiert. 1932 kaufte jedoch der Monopolist Reemtsma die Fabrik auf, schloss den Standort und verkaufte es an die Reichsbekleidungskammer. Fortan waren die Hallen ein Standort für die Textilfertigung; zu DDR-Zeiten produzierte hier der VEB Treffmodelle. 1989 misslang die Privatisierung, und es kamen die Künstler.
Der Bezirk Pankow würde gerne diesen Kulturstandort erhalten, das erklärte Stadtrat Michail Nelken (LINKE) gegenüber den Theatermachern vom Eigenreich, doch auf den Strukturwandel hat der Bezirk keinen Einfluss. Der erste Hinterhof wurde bereits modernisiert, noch stehen viele »Office Lofts« leer. Dagegen fragten beim Theater Eigenreich in den letzten Monaten immer wieder Maler, Bildhauer und Musiker nach, ob für sie in den leeren alten Gebäuden noch Arbeitsräume vorhanden seien, so Verena Drosner.
Sie ist wütend über diese Entwicklung in Prenzlauer Berg, aber nicht entmutigt; ans Aufhören mag sie nicht denken. »In der Kunst und im Leben sind die Dinge schwieriger als wir denken«, sagte einst Andrej Bely. »Wenn wir Künstler bleiben möchten, ohne unsere Menschlichkeit zu verlieren, müssen wir unsere eigene Kunstform werden.«
Wieder 1. und 2. Juni, 20.30 Uhr, Theater Eigenreich, Greifswalder Straße 212/213, Telefon: 01522-925 16 31, Infos unter www.eigenreich-berlin.de
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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