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Kirgistan droht der Zusammenbruch

Hunderte Tote bei Unruhen befürchtet / Regierung ratlos / Russland zögert mit Eingreifen

  • Irina Wolkowa, Moskau
  • Lesedauer: 3 Min.
Bis zu 700 Menschen sollen nach unbestätigten Angaben bisher bei den Unruhen im Süden Kirgistans ums Leben gekommen sein. Plünderungen, Brandstiftungen und Pogrome, die am Freitag in Osch begannen und vor allem gegen die usbekische Minderheit gerichtet waren, hatten am Wochenende auf die Nachbarregion Dschalalabad übergegriffen.

Es fehlt in den Unruhegebieten an Lebensmitteln, Trinkwasser und Medikamenten. Experten sprechen von einer Katastrophe. Zumal rund 75 000 Menschen – jeder achte Bewohner der Republik – inzwischen auf der Flucht sind. Vor allem ethnische Usbeken. Ein Teil hat es geschafft, die seit Freitag geschlossene Grenze zu Usbekistan zu durchbrechen. 6000 Menschen strandeten bisher in Andishan im usbekischen Teil des Fergana-Tals. Die meisten, hieß es dort, benötigten dringend medizinische Hilfe.

Rosa Otunbajewa, die Chefin der Interimsregierung, die nach den Unruhen Anfang April Staatschef Kurmanbek Bakijew zum Rücktritt zwang, hat unterdessen ihre am Wochenende mündlich vorgetragene Bitte um Entsendung russischer Friedenstruppen in einem Schreiben an Präsident Dmitri Medwedjew erneuert. Ein gleichlautendes liegt der Organisation für kollektive Sicherheit vor: dem Verteidigungsbündnis der UdSSR-Nachfolgegemeinschaft GUS, die am Montag in Moskau zu einer außerordentlichen Tagung zusammentrat. Die Initiative geht auf den Kremlchef zurück, der einen Alleingang Moskaus aus taktischen Gründen vermeiden will. Auch, weil der Westen den Kaukasuskrieg 2008, bei dem Russland in Georgiens abtrünnige Autonomien Südossetien und Abchasien einrückte, noch gut in Erinnerung hat.

Derzeit, so Medwedjews Pressechefin Natalja Timakowa schon am Samstag, lägen für eine russische Friedensmission in Kirgistan nicht die Voraussetzungen vor. Ähnlich hatte sich Medwedjew am Freitag auch auf dem Gipfel der Shanghai-Organisation geäußert, die sich für regionale Zusammenarbeit in Zentralasien engagiert. Anders als deren Statuten sieht die GUS-Verteidigungsorganisation den Bündnisfall auch bei inneren Unruhen vor.

Die Bereitschaft der Mitglieder – Armenien, Kasachstan, Kirgistan, Russland, Tadshikistan, Usbekistan und Belarus – hält sich jedoch sehr in Grenzen. Wegen chronischer Ebbe in den Staatskassen und weil die Regierenden Zentralasiens – zu Recht – fürchten, den Krieg auf ihr Gebiet zu holen und damit den Fortbestand ihrer Regime zu gefährden, die ähnlich instabil sind wie Kirgistan.

Allein schon die Tatsache, dass bei den Konsultationen in Moskau nicht die Staatschefs, sondern die Sekretäre und damit Beamte ohne Entscheidungsbefugnis am Tisch sitzen, lässt befürchten, dass das Bündnis keine Nägel mit Köpfen machen wird.

Den Kammerton hatte Jermuhamed Jertysbajew, der außenpolitische Berater von Kasachstans Präsident Nursultan Nasarbajew, schon vor Verhandlungsbeginn vorgegeben: Die Kirgisen seien »einfach verpflichtet, mit dieser schwierigen Situation aus eigenen Kräften« fertig zu werden, GUS-Truppen könnten nur einrücken, wenn die Souveränität Kirgistans bedroht ist.

Kenner der Region halten diese Bedingung für mehr als erfüllt. Aus ihrer Sicht hat die Regierung, weil sie nicht in der Lage ist, die strategische Initiative wieder an sich zu reißen, ihre Souveränität bereits verloren. Wann Otunbajewa das Handtuch wirft, ist, wenn Hilfe der Bündnispartner ausbliebt, nur eine Zeitfrage. Das wiederum könnte, weil mehrheitsfähige Alternativen fehlen, mit dem Kollaps aller staatlichen Strukturen enden, der im schlimmsten Fall auch die anderen Staaten der Region erfasst.

Davon dürften vor allem die Islamisten profitieren. In ihnen sieht die von Macht und weltlicher Opposition enttäuschte Mehrheit die einzig mögliche Lösung.

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