Nur ein Prozent ist weise
Bremer Forscher haben die Rolle von Lebenserfahrung beim Agieren älterer Menschen untersucht
Bremen. Mit dem Alter kommt die Weisheit. Das sagt der Volksmund. Doch ältere Menschen sind nicht unbedingt weiser als jüngere. In manchen Situationen reagieren sie uneinsichtiger als junge Leute. »Mit dem Alter können wir Neues nicht mehr so gut verarbeiten«, erklärt die Altersforscherin Ursula Staudinger von der privaten Jacobs University in Bremen. »Man ist auch nicht mehr so offen für neue Erfahrungen, und es besteht die Gefahr, engstirniger zu werden. Beides macht nicht weiser.«
Wie misst man?
Seit 1985 beschäftigt sich die Psychologieprofessorin in zahlreichen Studien mit Weisheit – erst am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin und an der Technischen Universität in Dresden, nun an der Jacobs University. Doch was gilt überhaupt als weise? Und wie misst man das? Gemeinsam mit Kollegen entwickelte Staudinger dafür eine Methode. Im Labor setzten sie Probanden Probleme anderer Menschen vor, über die diese laut nachdenken sollten. Die Forscher nahmen die Antworten auf. Parallel entwickelten sie fünf Kriterien für Weisheit aus der Fachliteratur. Dazu gehört zum Beispiel die Erkenntnis, dass das Leben von Ungewissheiten geprägt ist, man aber trotzdem handeln muss. Oder dass Menschen mit unterschiedlichen Prioritäten handeln – und wie man dies berücksichtigt. Für die Studien trainierten die Weisheitsforscher dann Beurteiler, die die Antworten der Testpersonen nach diesen Kriterien bewerteten. Nach jahrelanger Erfahrung steht für die Expertin fest: Weisheit ist wirklich selten. »Nur unter ein Prozent der Testpersonen kann man nach unseren Studien als weise bezeichnen«, sagt die 51-Jährige. Vor allem wenn es um sie selbst geht, reagieren Menschen alles andere als abgeklärt, sondern zu emotional. »Es ist einfacher, für andere weise zu sein als für sich selbst.«
Für ältere Menschen trifft das besonders zu. 2007 konfrontierten Staudinger und ihre Kollegen eine Gruppe von 20- bis 35-Jährigen und eine Gruppe von 60- bis 75-Jährigen mit der Aufgabe, sich selbst als Freund mit seinen Stärken und Schwächen zu beurteilen. Die Älteren schnitten dabei schlechter ab als die jüngeren. Staudinger begründet dies so: »Unsere Aufgabe in der letzten Lebensphase ist es, auf das Leben zurückzublicken. Dabei ist es hilfreich, die Dinge positiv einzuordnen, um nicht zu verbittern.«
Sonderfall Sozialkonflikt
Demnach neigen Ältere dazu, weniger selbstkritisch zu sein. »Junge Leute können sich leichter relativieren und infrage stellen.« Wenn die Probanden allerdings eine vertraute Person mit ins Labor nehmen durften, mit der sie vorher über die Antworten sprechen konnten, wurden diese besser. »Vor allem Ältere konnten Nutzen aus den Gesprächen ziehen, die Jüngeren nicht so.« Im Alter könnte es also helfen, ab und zu enge Freunde oder den Partner um Rat zu fragen.
Vor allem bei sozialen Konflikten kann mehr Lebenserfahrung nützlich sein. Eine im April in der Fachzeitschrift »Proceedings of the National Academy of Scienes« veröffentlichte US-Studie kam zu dem Ergebnis, dass Ältere in solchen Situationen ausgewogener – und damit weiser – urteilen als Junge.
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