Insel der Beatles-Schrebergarten-Hymne
Spurensuche auf der Isle of Wight, einem Landflecken voller Geschichte(n)
»Wirst du mich noch brauchen, noch für mich da sein, wenn ich 64 bin?«, singt Paul McCartney, nostalgisch umsäuselt von Beatles- unüblichem Klarinettengedudel und Ringos Schlagzeugbesen. »When I'm Sixty Four«, eine Schrebergarten-Hymne, die das Unkrautjäten preist und vor allem den Ort des Geschehens: »Wir könnten jeden Sommer ein Ferienhaus mieten auf der Isle of Wight – wenn's nicht zu teuer ist.«
Die gemütliche Schaukelstuhl-Stimmung dieses Songs aus dem Jahre 1966 liegt immer noch über der Insel, spürbar gleich nach der Ankunft: Reetgedeckte Cottage-Häuschen aus grauen Feldsteinen eingerahmt von Rosen- und Brombeerhecken. Dazwischen schmale Dorfstraßen, die sich früher oder später hin zu verwitterten normannischen Kirchen schlängeln. Und als hätte Paul es geahnt – die 64plus-Generation hat hier die absolute Mehrheit – zumeist in Gestalt von lebenslustigen grauen Panthern mit Karo-Shorts und Blümchenkleidern, beim Angeln oder Deckschrubben auf ihren Segelbooten.
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Englands Florida wird die Insel daher genannt, aber auch wegen ihres sonnigen Klimas und manchmal sogar wegen der schwarzen Ritter und der schwarzen Pfeile. »Black Knights« und »Black Arrows«, so hießen 26 Raketen, die zwischen 1955 und 1971 am westlichen Inselzipfel ins All gejagt wurden – von einem britischen Cape Canaveral im Bonsaiformat. Immerhin, einen Satelliten in Kürbisgröße haben sie in die Umlaufbahn gebracht, wo er immer noch kreist.
Deutlich beeindruckender als die in einem Bunker schlummernde Ausstellung der Raumfahrterfolge Ihrer Majestät sind – ein paar Schritte entfernt – drei XXL-Backenzähne im Meer. Weiße Kreidefelsen namens »The Needles«, an deren Spitzen sich manch ein Seefahrer schon den Schiffsrumpf aufschlitzte.
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Der gesamte Küstenstreifen mitsamt Sonnenuntergang bildete die Panorama-Fototapete für Europas Woodstock – das Isle of Wight-Festival Ende August 1970. Geschätzt 600 000 Menschen tanzten, kifften und träumten vier Tage lang in den Dünen rund um East Afton Farm zu den vom Winde verwehten Klängen von Supertramp, Chicago, Miles Davis, den Doors oder The Who. Die Beatles waren beim – wesentlich kleineren Festival – ein Jahr zuvor dagewesen, aber nur zu dritt: John, George und Ringo als VIP-Zuschauer, nachdem sie zuvor tagelang mit Bob Dylan auf einem Insel-Bauernhof bei Bembridge vor sich hin geklampft hatten. Das 70er Festival galt nicht nur jahrelang als das größte weltweit, sondern war auch der letzte große Auftritt von Jimi Hendrix, gut zwei Wochen vor seinem Tod in einem Londoner Hotel. Eine Bronzestatue im Garten des Dimbola Lodge-Museums erinnert an den »Zungen-Gitarristen«.
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Entlang der Küstenstraße Military Road geht’s geradewegs in den Jurassic Parc. Denn mit ein wenig Fantasie stapfen in Kürze wieder Dinos über den zu langen Spaziergängen einladenden Strand. Jedenfalls, wenn Dr. Steven Sweetman so weitermacht.
Rund 50 ausgestorbene Arten entdeckte er auf der Insel in nur vier Jahren, darunter acht Saurier – mehr als alle Forscher an diesem Ort in 180 Jahren zuvor. Früher Erdölhändler und Finanzberater, hat sich Sweetman lange vor seinem 64. Geburtstag das von Paul McCartney besungene »Cottage on the Isle of Wight« gekauft und pflügt nun mit Schaufeln und bloßen Händen den Sand um – immer auf der Suche nach Knochen von T-Rex & Co. Einige seiner Sensationsfunde sind zu sehen im nahegelegenen »Dinosaur Farm Museum« Brighstone.
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Von der Urzeit in den Urwald sind es nur 25 Minuten. Shanklin Chine an der Südküste der Isle of Wight, eine kaum 40 Meter breite Schlucht, empfängt Besucher mit einem 14 Meter hohen Wasserfall, feuchter, bisweilen subtropischer Luft und gut 150, teilweise exotischen Pflanzen: Wilder Bärlauch neben japanischem Staudenknöterich und Riesenfarnen. Die grüne, in satten Farben gedeihende, vom Golfstrom verwöhnte Insel, hier hat sie ihre Paradiesspalte mit Dschungeltouch. Und Pluto, worauf Charlie, ein ergrauter, einheimischer Schluchtenfan immer wieder hinweist. Doch weder ein Planet noch ein Hund sind zu sehen. Nur ein rostiges Rohr am Wegesrand mit dieser Aufschrift. »Damit haben wir den Zweiten Weltkrieg gewonnen«, sagt Charlie ebenso stolz wie geheimnisvoll, blickt sichtlich amüsiert in die Gesichter der grübelnden Besucher, um sie dann zu erlösen: Pluto steht für »Pipeline under the ocean«, eine im Jahr 1944 heimlich verlegte, 70 Meilen lange Treibstoffleitung in die Normandie – sozusagen die Hauptschlagader für die alliierten Invasionstruppen bei ihrer Landung in Frankreich.
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Erst bei der Fahrt abseits der Küste, einmal quer über die Insel, wird klar, die Isle of Wight ist ein ideales Radlerrevier. Wenig Verkehr, viele Ausweichrouten auf kleinen, gut gepflegten Wegen sowie gemütliche Dörfer für Zwischenstopps garantieren entspanntes Ankommen im lebhaften Ort Cowes an der Nordspitze. Genau genommen ist es Waterloo. Jedenfalls für britische Segler. Im August 1851 startete Queen Victoria hier eine Regatta im Uhrzeigersinn um die Isle of Wight. Der Preis: eine hässliche, versilberte Zinnkanne. Die würde eines von 15 britischen Booten ja wohl gegen ein US-Boot gewinnen. Von wegen. Dank seiner aus Baumwolle anstatt aus Leinen genähten Segel rollte der US-Schoner »America« das Feld von hinten auf, lief die Ewigkeit von einer Dreiviertelstunde vor dem ersten Verfolger in Cowes ein. Ihre königliche Hoheit war not amused, musste später aber obendrein erleben, dass die frechen Yankees die königliche Regatta kurzerhand nach dem Siegerschiff tauften – auf den Namen »Americas Cup«. Diese älteste noch veranstaltete Regatta der Welt haben die Briten bis heute noch nie gewonnen, nur Neuseeländer, Australier und sogar die komplett küstenlosen Schweizer konnten die US-Vormacht in 149 Jahren insgesamt erst fünfmal brechen. Nach dem Verlust von Silberkanne und Regatta riefen die genervten Briten gleich eine ganze Segelwoche ins Leben – die Cowes Week, immer Ende Juli. Die konnte ihnen keiner wegnehmen, wohl aber kopieren. Kaiser Wilhelm II. machte die Kieler Woche daraus.
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Weniger schick als Cowes, dafür ein typisch britisches Küstenstädtchen mit leicht abgeblätterter Fassade ist Ryde. Per Anhalter trampten John Lennon und Paul McCartney im Sommer 1960 hierher, denn Pauls Cousine und ihr Mann hatten den Pub »Bow Bars« gepachtet. Die beiden Beatles jobbten hinterm Tresen und verewigten diese Zeit später im Songtitel »Ticket to ride«. Sagt jedenfalls Paul. John hingegen – immer für einen derben Scherz gut – behauptete, »Ticket to ride« stamme aus ihrer Hamburger Zeit, als Codename für Gesundheitspässe von Prostituierten auf der Reeperbahn.
Davon wollte der Bürgermeister von Ryde natürlich nichts wissen, bezog den Titel allein auf seine Stadt und schickte den Beatles im Jahre 1965 kurz nach Veröffentlichung der Platte vier Erste-Klasse-Bahn-Tickets nach Ryde. Damals kamen die Fab Four nicht. Sie haben nie zusammen auf ihrer Lieblingsinsel gespielt. Doch jetzt hat Paul McCartney sein »Ticket to Ryde« doch noch gelöst – er trat als Topstar beim Isle of Wight-Festival am 13. Juni auf.
- Infos: VisitBritain, Dorotheenstr. 54, 10117 Berlin, Tel.: (030) 31 57 19-0, Fax:-10, www.visitbritain.com oder www.iwight.com
- Anreise: nur per Fähre, z. B. mit der Gesellschaft Wightlink, www.wightlink.co.uk, ab Portsmouth und Lymington, Hin- und Rückfahrten ab umgerechnet ca. 40 Euro für drei Personen und Pkw.
- Literatur: »Südengland« aus der Reihe Du Mont Richtig reisen, 22,95 Euro
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