Ein Bollwerk der Eliten?
Schulstreit in Hamburg: Das Volk entscheidet auch über die Zukunft von Bürgermeister Ole von Beust
In Hamburg sind Ferien – und doch dreht sich alles um die Schule. Nicht um Algebra oder Photosynthese, sondern um eine Volksabstimmung am 18. Juli: Lässt sich das dreigliedrige Schulsystem gegen den Widerstand größerer Bevölkerungsteile reformieren? Und wackelt der schwarz-grüne Senat um Bürgermeister Ole von Beust (CDU) und Schulsenatorin Christa Goetsch (GAL)?
Der Mann, der die Hamburger Politik vor sich hertreibt, heißt Walter Scheuerl und ist Sprecher der im Mai 2008 gegründeten Volksinitiative »Wir wollen lernen« (WWL). Der Rechtsanwalt aus dem gutsituierten Stadtteil Blankenese hat für ein einmalig breites Bündnis von der CDU über SPD und GAL bis hin zur Linkspartei gesorgt. Gemeinsam haben sich die Parlamentsparteien darauf geeinigt, eine Schulreform mit einer sechsjährigen Primarschule und einer maximalen Klassenstärke von 23 Schülern umzusetzen. Damit würden die Schüler künftig zwei Jahre länger gemeinsam unterrichtet, ehe der Wechsel zu weiterführenden Schulen erfolgt. Zudem soll auch auf der »Stadtteilschule« – die Haupt- und Realschule ersetzt – das Abitur möglich sein. Allerdings nach 13 statt nach zwölf Jahren wie auf dem Gymnasium. Der Bürgermeister selbst warf sich für die Reform in die Bresche. Er hätte den Sprung aufs Gymnasium womöglich nicht geschafft, »wenn mein Vater nicht Bezirksamtsleiter gewesen wäre«, verriet Ole von Beust
»Auf der Straße spürt man, dass die Abstimmung ein heißes Thema ist«, sagt Jürgen Jeske, der die WWL-Kampagne leitet und im Initiativenbüro in Rathausnähe sitzt. »Erst haben die Oppositionsparteien gegen die Reform geschossen, jetzt stehen sie dahinter«, kritisiert der junge Mann und vermutet: »Dass es keine parlamentarische Opposition mehr gibt, macht die Bürger sauer.«
184 000 Unterschriften hat WWL 2009 gegen die damalige Version der Schulreform gesammelt – drei Mal mehr als erforderlich. Davon alarmiert, verständigte sich der CDU/GAL-Senat mit den Oppositionsparteien. SPD und Linkspartei setzten unter anderem Büchergeld durch und unterstützen nun die gemeinsame Bürgerschaftsvorlage.
Die Gegner hingegen kritisieren, die Reform würde den Elternwillen übergehen und nicht mehr bewirken als zusätzliche Kosten. Schüler erst nach sechs Jahren zu trennen, würde sowohl Begabten als auch weniger Begabten nicht gerecht, meint WWL-Initiator Scheuerl. Die Ausstrahlung eines Radiospots, in dem nahegelegt wird, die Reform würde das Elternwahlrecht abschaffen (was nicht der Fall ist), wurde just von der Landesmedienanstalt verboten – nicht wegen Missverständlichkeit, sondern weil politische Werbung nur vor Wahlen und nicht vor Volksabstimmungen erlaubt sei.
Auf einen langen Atem kommt es an, die Abstimmung ist ein Marathon: Seit dem 7. Juni können 1,2 Millionen Hamburger per Post abstimmen, zum Finale am 18. Juli werden 201 Wahllokale geöffnet. Bis zum 7. Juli hatten 364 000 Bürger zur Vorlage der Bürgerschaft und zum WWL-Gegenentwurf, der das Gymnasium nach Klasse vier behalten will, votiert. Im Schlussspurt geht es um die Unentschlossenen – um gültig zu sein, muss eine Vorlage nicht nur gewinnen, sondern auch mindestens 248 000 Ja-Stimmen erhalten.
Bisheriges System sozial ungerecht
Bei 30 Grad im Schatten sind gerade drei Interessierte ins Bürgerhaus Barmbek gekommen, um sich von Reformbefürwortern informieren zu lassen: Ein schweigsamer junger Mann, eine Seniorin, die einen Kuchen fürs nächste Stadtteilfest ankündigt, und eine Mutter im Späthippie-Look, deren Sohn der Schule bereits entwachsen ist. Barmbek ist ein alter Arbeiterstadtteil, die angrenzenden Bramfeld und Steilshoop gelten als soziale Problemviertel. Edith Aufdembrinke spricht für die »Schulverbesserer«, begleitet vom pensionierten Grundschulleiter Wilfried Au: ein Mann mit Bart, Karohemd, Sandalen und innerer Ruhe, der sämtliche Slogans (»Für die Rüstung fix, für die Bildung nix«) aus den Bildungskämpfen der vergangenen Jahrzehnte rezitieren kann. Die kleine Runde wechselt schnell von Information zu Grundsatzdiskussion. Aufdembrinke beklagt das »Bulimie-Lernen«, ein Insichhineinstopfen von Wissen, das nach der Prüfung sofort wieder ausgespuckt werde. Die als Gast erschienene Mutter plädiert mit Verve für eine Schule, in der man Fehler machen darf, Angst abgebaut wird, einer den anderen achtet. Gleichzeitig wettert sie gegen die Grünen, die die Reform von oben durchsetzen wollten. »Wir führen jetzt die Diskussion, die wir vor vier, fünf Jahren hätten führen sollen«, räumt Aufdembrinke Versäumnisse ein: »Damals ging es vordringlich darum, die Schritte hin zur Reform zu unternehmen. Deshalb gibt es jetzt Widerspruch.«
Eine Bürgerinitiative auf der einen Seite, die offizielle Politik versammelt auf der anderen – die in der Schweiz eingeübte Frontstellung in Volksabstimmungen ist für Hamburg neu. Während in der Schweiz jedoch eine Quasi-Allparteienregierung herrscht, steckt der schwarz-grüne Senat an der Elbe seit Monaten in einem Umfragetief. Explodierende Elbphilharmonie-Kosten, erhöhte Kita-Gebühren, die umstrittene Rückkehr der Straßenbahn – der gesammelte Frust über Senatsprojekte ist Wasser auf die Mühlen der Reformgegner. Die Abstimmung ist auch ein Denkzettel-Plebiszit über Ole von Beust und sein 2008 begonnenes schwarz-grünes Experiment. Entsprechend wird spekuliert, ob der Bürgermeister bei einer Niederlage zurücktritt, ob ein Nachfolger Schwarz-Grün bis zu den Wahlen 2012 zusammenhalten könnte oder ob bald schon ein neuer Urnengang in Hamburg ansteht.
Wird die Schulreform am 18. Juli »bachab geschickt«, wie die plebiszitfreudigen Schweizer ein »Nein« beschreiben, würde dies Schulreform-Bestrebungen auch bundesweit zurückwerfen. Besonders Nordrhein-Westfalen blickt nach Hamburg: Dort steht demnächst eine rot-grüne Minderheitsregierung vor der Aufgabe, sich eine parlamentarische und gesellschaftliche Mehrheit für eine neue Schulpolitik zu suchen.
Im Gemeindesaal der Melanchthonkirche im bürgerlichen Elbvorort Groß-Flottbek wird Wasser und Orangensaft gegen die Hitze gereicht. Hier schätzt man das Gymnasium und den gepflegten Garten, hier fahren nach deutschen Fußball-Siegen keine hupenden Autos durch die Straßen. 20 ältere Damen in luftigen Kleidern haben sich eingefunden, die meisten wohl, um Walter Scheuerl live zu erleben. Doch Scheuerl kommt nicht, überlässt damit seinem Kontrahenten Wolfgang Dittmar das Feld, einem pensionierten Gymnasialschulleiter mit grauem Bart. Er sei zwar »kein Sozialromantiker«, sagt Dittmar, aber das bisherige System sei »eine große soziale Ungerechtigkeit«. Einige der Damen nicken, nicht alle sind überzeugt. »Ich bin gegen die Primarschule«, erklärt eine Besucherin, die sich als Lehrerin mit 30-jähriger Berufserfahrung vorstellt. Der Übergang zu einer anderen Schulform nach der sechsten Klasse komme zu spät: »Wenn die sechste Klasse zu Ende ist, sind die Kinder meistens in der Krise. Sie kommen dann in die Pubertät, fangen an zu kiffen und saufen, und die Jungen müssen sich beweisen.«
Dass die mit Krisen vertraute, nicht in der Bürgerschaft vertretene FDP auf den Zug gegen die Reform aufgesprungen ist, quittieren manche WWL-Vertreter allenfalls mit einem gequälten Lächeln. Die Liberalen sind in Hamburg für manches gut, kaum aber für Mehrheiten. »Wenn staatliche Schulen keine überzeugenden Lösungen anbieten, wie starke Schüler mehr gefordert und schwache Schüler besser gefördert werden, erleben wir ein Zwei-Klassen-Schulsystem wie in den USA«, warnt Anna von Treuenfels von der Elb-FDP vor einer Flucht betuchter Eltern zu Privatschulen. Für Reformbefürworter klingt das nicht nach Warnung, sondern nach Drohung. Es nährt den häufig geäußerten Verdacht, WWL betreibe die Sache von Eliten, die ihre Zöglinge vor den sozialen Verwerfungen einer Millionenstadt und ihrer Schulhöfe abschirmen wollten. Während die »Zeit« diesbezüglich über »Gucci-Protest« lästerte, erinnerte der Bürgermeister daran, dass Kinder aus sozial benachteiligten Familien bei vergleichbaren Leistungen deutlich seltener fürs Gymnasium empfohlen werden als Akademikerkinder. Ole von Beust: »Es kann nicht sein, dass die Wohlhabenden sich nur um ihre Interessen kümmern, und diejenigen, die in einer schwierigen Situation leben, nicht einmal mehr die Hoffnung oder die Chance haben, dass es besser werden kann.«
Hamburg bei Vergleichstests hinten
Eine Bürgerinitiative als Bollwerk der Eliten? WWL-Kampagnenleiter Jeske widerspricht scharf: »Es geht bei der Abstimmung nicht ums Büchergeld, das befürworten wir auch. Das sind Vorurteile, die von der Politik geschürt werden, weil es einfach ist, mit dem Finger auf jemanden zu zeigen.« Dann zeigt Jeske auf sich selbst: »Meine Jeans hat 29 Euro gekostet, und die drei Streifen auf meinen Turnschuhen waren ein Sonderangebot.«
Je umstrittener Bildung ist, desto häufiger wird sie gemessen: Im Juni landete Hamburg in einem OECD-Vergleichstest beim Leseverständnis deutscher Texte auf dem drittletzten Platz der 16 Bundesländer. Bei englischen Texten stand dagegen ein dritter Rang zu Buche – wieder einmal Gelegenheit zu unterschiedlichsten Interpretationen. »Wenn unsere Schulen ganz toll wären, würde ich meine Freizeit anders verbringen«, sagt der ehemalige Barmbeker Schulleiter Wilfried Au und ahnt, dass die Diskussion nach dem 18. Juli nicht aufhören wird. »Ich hoffe, dass ich noch die Ganztagsschule erlebe«, wünscht er sich, »denn nur die Grundschule zwei Jahre zu verlängern, ist eigentlich nicht genug.«
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