Die Hüter der Zahlen
Wie kommt man als national nur mittelguter Mittelstreckler zur Europameisterschaft in Barcelona? Wenn schon nicht auf die Bahn, dann wenigstens in den Athletenbereich? Es ist nicht ganz einfach, aber es ist möglich: Man werde Statistiker!
Wenn im Estadi Olimpico am Abend die Flutlichter ausgehen, fängt der Arbeitstag von Christian Lenk erst an. Dann geht der 31-jährige Industriekaufmann aus Dornstetten im Schwarzwald mit seinem englischen Kollegen Marc Butler in den TV-Container der BBC und verrichtet sein Werk. Marc Butler druckt aus seinem Computer die »Biographical Entry List« für den kommenden Tag aus, die er entworfen hat. Dann vergleichen Butler und Lenk jede Zahl auf der Liste mit ihren eigenen Archiven.
Diese »Biografische Meldeliste« steht am kommenden Morgen allen Journalisten zur Verfügung. Vor allem die Fernsehreporter, die immer so allwissend erscheinen, zehren bei den Live-Übertragungen von diesen Infos: Jeder Starter des Wettkampftages ist darin genannt, auf einen Blick erkennbar sein Alter (auf Jahr und Tag genau), die Saisonbestleistung, seine Bestleistung, die aktuelle Position in der europäischen Jahresbestenliste und Besonderheiten.
Darunter steht kleingedruckt ein Kauderwelsch aus Zahlen und Buchstaben, das nur Leichtathletikbegeisterte verstehen: Alle bekannten Bestleistungen vergangener Jahre, Titel, Dopingsperren, Platzierungen bei Meisterschaften, selbst das Nichterreichen von Wettkämpfen: »WCH 09 dnq« etwa bei Sportlern, die für die WM 2009 nicht qualifiziert waren.
Nichts ärgert Statistiker wie Christian Lenk mehr als Fehler in solchen Datensammlungen. »Wenn die falschen Zahlen einmal raus sind, werden sie immer weiter verbreitet«, sagt er. Statistiker sehen sich nicht etwa als Erbsenzähler – eher als Hüter der Wahrheit. Was bei der Leichtathletik in Wahrheit zählt, sind die Zahlen, natürlich die richtigen, die korrekten.
Wegen eines Fehlers fing er einst mit dem Statistikführen an. Lenk, ein passabler 1500-Meter-Läufer von der LG Badenova Nordschwarzwald (Bestzeit: 3:46,97) lernte 1998 bei einem Crosslauf den Kenianer Bernard Lagat kennen, der damals in Freiburg trainierte: »Über Lagat wurde auf Eurosport immer wieder der gleiche falsche Stuss erzählt, so dass ich angefangen habe, meine eigenen Statistiken zu sammeln.« Kiloschwere Jahrbücher der Kontinentalverbände, Ergebnislisten aus Tadschikistan, Jahresbestenliste der karibischen Staaten – alles was er für Geld oder gute Worte auftreiben konnte. Mittlerweile sind es etwa 50 000 Seiten Ergebnisse, gescannt und auf dem Computer gespeichert.
Irgendwann schrieb Christian Lenk dem Briten Marc Butler einen Brief. Butler ist die Instanz unter Europas Leichtathletikstatistikern, trotzdem wies ihn der junge Mann aus dem Schwarzwald auf Ungenauigkeiten in Bernard Lagats Biografie hin. Butler prüfte nach, war von der Akribie begeistert und lud Lenk zur Mitarbeit ein. Butler arbeitet für den europäischen Verband und berät die BBC-Reporter bei ihren Übertragungen. Lenk saß mit Butler bei der WM in Berlin in der Reporterkabine, hier in Barcelona ist er wieder dabei.
Die Statistik ist nicht immer nur stille Hinterzimmerarbeit. »Bei der BBC treffe ich unglaublich tolle Leute«, schwärmt Christian Lenk, der mittlerweile Mitglied im ATFS ist, dem Weltverband der Leichtathletikstatistiker. »Es ist doch verrückt: Meine Vereinskollegen sitzen als Touristen auf der Gegentribüne, ich treffe 400-Meter-Legende Michael Johnson. Das ist doch ein Traum.«
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