Weite Teile des Landes unter Wasser

Pakistan wird von den schwersten Überschwemmungen seit Menschengedenken heimgesucht / Bislang über 1300 Tote und riesige Schäden nach verheerenden Monsunregenfällen

  • Hilmar König
  • Lesedauer: 6 Min.
Weite Gebiete Pakistans, vor allem im Nordwesten, werden seit fast zwei Wochen von verheerenden Überschwemmungen heimgesucht. Über 1300 Menschen fielen der Katastrophe bislang zum Opfer, über eine Million Pakistaner verloren Heim, Hab und Gut.

Wasser. Wasser. Wasser. Seit Jahren dürstet Pakistan nach dem Lebenselixier. Mit dem Nachbarn Indien liegt man in heftigem Streit um die Aufteilung des Wassers einiger Himalaja-Flüsse, die einen beträchtlichen Teil der Landwirtschaft auf dem Subkontinent speisen. Und nun das! Seit dem 22. Juli haben sich die Himmelsschleusen in einem Maße geöffnet, an das sich nur die Uralten erinnern können. Einen so heftigen Monsun hat es seit 80 Jahren nicht mehr gegeben.

Peschawar von der Umwelt abgeschnitten

Im Nordwesten fielen innerhalb von 36 Stunden in vielen Gebieten über 300 Liter Regen auf den Quadratmeter. Die Überschwemmungen richteten unvorstellbare Schäden an. Es handelt sich nach Einschätzung des nationalen Rettungsdienstes um eine der schlimmsten Flutkatastrophen.

Der indische Fernsehsender NDTV berichtete am Montag aus dem Nachbarland von mindestens 1500 Toten in den vergangenen fünf Tagen, die meisten in der Provinz Khyber-Pakhtunkhwa. Opfer wurden aber auch in den Provinzen Punjab, Belutschistan, den nördlichen Stammesgebieten und im pakistanischen Teil Kaschmirs gemeldet.

Mujahid Khan, Sprecher der pakistanischen Hilfsorganisation Edhi, telefonierte aus Peschawar, dass die Zahl der Toten auf 3000 steigen könnte, »weil das Ausmaß der Zerstörungen so gewaltig ist«. Man könne gegenwärtig nur fünf Prozent dessen an Hilfe leisten, was eigentlich erforderlich ist.

Ebenfalls am Montag hieß es in der pakistanischen Tageszeitung »The Daily Times«: »Der Provinz Khyber-Pakhtunkhwa droht ein humanitäres Desaster. Tausende rufen nach Nahrungsmitteln, Wasser und Obdach. Flutopfer bezweifeln die Fähigkeit der Regierung, Hilfe in die abgelegenen Gebiete zu bringen, da ihr das nicht einmal für die Vororte Peschawars gelingt. Nach sechs Tagen wenig Anzeichen für Hilfe.«

Am härtesten heimgesucht von der Überschwemmungskatastrophe sind die Regionen Swat, Shangla, Charsadda, Nowshera und Lower Dir. Mian Iftikhar Hussain, Informationsminister der Provinz, sprach von 1100 Toten und 1,5 Millionen Betroffenen, die obdachlos wurden, all ihr Hab und Gut verloren. Die Fluten rissen bisher 3700 Gebäude, ganze Dörfer und Getreidespeicher weg. In der schwülen Hitze wächst unter katastrophalen hygienischen Verhältnissen die Gefahr von Infektionskrankheiten. Hussain teilte mit, es gebe erste Cholerafälle.

Tagelang saßen Obdachlose auf Bäumen oder retteten sich auf Dächer ihrer Häuser. Andere wateten bis zum Bauch durch reißende Fluten. Hunderte werden noch vermisst, mehr als 25 000 Menschen sind von der Umwelt abgeschnitten. Brücken stürzten ein. Straßen, Strom- und Telefonnetze wurden zerstört, riesige landwirtschaftliche Flächen überflutet. Tausende Stück Vieh ertranken. Erdrutsche und Steinschläge in den Gebirgsgegenden erschwerten Rettungseinsätze oder machten diese unmöglich. Die Großstadt Peschawar ist von der Umwelt abgeschnitten. Mohammed Awais aus dem Peschawarer Stadtteil Monim Ghari campierte in den letzten Tagen im Freien auf einer höher gelegenen Straße. Er beklagte sich gegenüber Reportern: »Von staatlicher Hilfe ist nichts zu sehen. Ich muss Fremde um etwas Essen für meine Familie anbetteln.«

Regierung zeigt sich überfordert

Die Nationale Katastrophenschutzagentur gab bekannt, dass ihre Rettungskräfte wegen der zerstörten Infrastruktur bislang in viele Gebiete noch gar nicht vordringen konnten. 30 000 Soldaten sind mit Hubschraubern, Gummibooten und Flößen im Einsatz. Sie evakuierten bis Sonntag 28 000 von den Wassermassen eingeschlossene Menschen. Das sei zwar eine beeindruckende Zahl, sagte Armeesprecher Generalmajor Athar Abbas, aber angesichts der Dimension des Naturdesasters nicht ausreichend.

In der südlichen Provinz Sindh haben die Behörden in Erwartung der Flutwelle die ersten Evakuierungen am Unterlauf des Indus eingeleitet. Der Pegel der meisten Flüsse steigt immer noch und die Meteorologen kündigten weitere Niederschläge an. Die Provinzregierungen haben versprochen, den Betroffenen für eine gewisse Zeit Steuern sowie die Rückzahlung von Krediten zu erlassen.

Die Regierung von Premier Jusuf Raza Gilani sieht sich harscher Kritik ausgesetzt. Das änderte sich auch nicht, nachdem er das Katastrophengebiet mit dem Hubschrauber überflogen hatte, um sich einen Überblick zu verschaffen. Die Notleidenden bewerteten das lediglich als eine leere, symbolische Geste. Viele Obdachlose beklagten beispielsweise das Fehlen von Notunterkünften. Islamabad sei mit der Bewältigung dieser Mammutaufgabe überfordert, hieß es in der Zeitung »Dawn«. Es gebe Korruptionsvorwürfe, die sich auf die Verteilung von Hilfsgütern beziehen.

Die Unzufriedenheit der Bevölkerung angesichts des staatlichen Versagens spiele Extremisten und militanten Gruppen in die Hände. In das bestehende Vakuum sei die Jamaat-ud-Dawa, ein sich humanitär gebender Ableger der militanten Lashkar-e-Toiba, bereits gestoßen und habe mit cleverem Management und moderner Technik den Betroffenen unter die Arme gegriffen.

Internationale Hilfe läuft an

Unterdessen gibt es internationale Hilfszusagen. Die UNO und die USA haben je zehn Millionen Dollar, die Volksrepublik China 1,5 Millionen Dollar versprochen, die Bundesregierung verdoppelte ihre Hilfe am Wochenende auf eine Million Euro. Das Welternährungsprogramm kümmert sich um die Versorgung von 35 000 Familien mit Lebensmittelrationen, klagt jedoch darüber, dass die Fluten erhebliche Schäden an seinen Lagerhallen angerichtet hätten, in denen Vorräte für Hilfseinsätze in Pakistan und Afghanistan aufbewahrt wurden.

Die EU stellt 30 Millionen Euro Soforthilfe bereit. Vordringlich sollen damit Notunterkünfte, Decken und die Trinkwasseraufbereitung finanziert werden. Aber selbst das kann erst richtig greifen, wenn die betroffenen Gebiete wieder einigermaßen zugänglich sind.


Lexikon - Asiens schwerste Flutkatastrophen in zwei Jahrzehnten

1991 China: Im Zentrum und im Osten sterben zwischen Juni und September 3000 Menschen durch Überschwemmungen.

1992 Pakistan: Mehr als 3000 Tote und Vermisste nach Monsunregen im September

1993 Nepal, Bangladesch, Indien: Monsunregen im Juli führt zu Überschwemmungen, bei denen 2000 Menschen in Nepal, 1000 in Bangladesch und Indien ums Leben kommen.

1993 China: In der Regenzeit zwischen Juni und September sterben 3300 Menschen.

1994 China: Im Juni und Juli mehr als 2000 Überschwemmungstote vor allem im Süden Chinas

1996 China: Rund 3000 Flutopfer in neun zentralen Provinzen im Juli/August

1998 Pakistan: Durch Überschwemmungen sterben im März im Südwesten 1500 Menschen.

1998 China. In Süd- und Zentralchina kommen von Mai bis August 4000 Menschen ums Leben, die meisten am Jangtse; die schwersten Überschwemmungen ereigneten sich dort 1954, als 30 000 Menschen starben.

1998 Indien: 2000 Überschwemmungstote zwischen Juni und September im Norden und Osten des Landes

1998 Bangladesch: Rund 2000 Tote und mehr als 30 Millionen Obdachlose durch Überschwemmungen zwischen Juli und September

2007 Bangladesch: Mehr als 1000 Tote und 2,5 Millionen Flüchtlinge durch Monsunregen zwischen Juni und September

2007 KDVR: Mindestens 600 Tote und Vermisste nach schweren Regenfällen im August

2009 Taiwan: Bei Überschwemmungen, die durch einen Taifun im August ausgelöst werden, sterben 614 Menschen.

Die größte Naturkatastrophe in Asiens jüngster Geschichte war der Tsunami, der im Dezember 2004 in rund einem Dutzend Ländern mehr als 226 000 Menschen tötete. AFP/ND

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -