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Ein Gebot der Menschenwürde

Japan 65 Jahre nach dem Atombombenabwurf: Bürgermeister Akiba fordert stärkeres Engagement Tokios für nukleare Abrüstung und Nein zum US-amerikanischen Nuklearschirm

  • Sebastian Maslow, Sendai
  • Lesedauer: 5 Min.
65 Jahre nach dem Abwurf der ersten Atombombe auf Hiroshima erinnert sich der heute 84-jährige Toshio Hironaka an die Schrecken jenes Tages. Als Rechtswissenschaftler engagiert er sich seit Jahren für den Erhalt der japanischen »Friedensverfassung« und für die nukleare Abrüstung.
Prof. Toshio Hironaka
Prof. Toshio Hironaka

Als am Morgen des 6. August 1945 um 8.15 Uhr die Bombe über der Stadt detonierte, reparierte Toshio Hironaka, zum Fahrdienst eingezogen, seinen Lastwagen in Ujina, dem Hafen- und Industriegebiet im Süden Hiroshimas. Nur wenige Stunden später fuhr er mehrere Male die Strecke zum südlichen Rand des Explosionszentrums, um Verletzte einzusammeln und zum Hafen zu transportieren. Über Fotografien und Karten des zerbombten Hiroshima gebeugt, skizziert Hironaka seine Odyssee in den ersten Stunden nach der Detonation. Nur wenige, die er auf seinen Lastwagen lud, hätten den 6. August überlebt, befürchtet er.

Erst am Tag darauf konnte Hironaka aufbrechen, um in den Trümmern seinen Vater zu suchen. Den Blick auf verkohlte Leichen gerichtet, musste der damals 19-jährige Student die Hoffnung bald aufgeben.

Hironaka lebt heute im nordjapanischen Sendai. Als Überlebender und Zeuge der Ereignisse vom 6. August 1945 hat der renommierte Rechtswissenschaftler eine Schlussfolgerung gezogen: Japans »Friedensverfassung« muss bewahrt werden, und die Tokioter Regierung muss sich für nukleare Abrüstung einsetzen.

In einer Presseerklärung am Montag dieser Woche erklärte auch Tadatoshi Akiba, Bürgermeister von Hiroshima, er wolle sich dafür einsetzen, dass Japan im internationalen Engagement für nukleare Abrüstung und für die Reduzierung der Militärausgaben eine Führungsrolle übernimmt.

Zwar trat Japan 1976 dem Atomwaffensperrvertrag bei, doch da hatte es sich längst dem US-amerikanischen Atomwaffenschild untergeordnet, der die außen- und sicherheitspolitischen Grundlinien in Tokio und Washington mit Beginn des Kalten Krieges bestimmte und sie bis heute bestimmt. Bürgermeister Akiba will die japanische Regierung daher in konkreten Schritten zu einem Verzicht auf den Nuklearwaffenschirm und zur Einhaltung der nichtnuklearen Prinzipien bewegen.

Japan hatte versprochen, Nuklearwaffen weder herzustellen noch zu besitzen oder ins Land zu lassen. Im Zusammenhang mit Artikel 9 der japanischen Verfassung, in dem das Land auf das Recht der Kriegsführung und auf die Unterhaltung von Streitkräften verzichtete, bilden diese drei Prinzipien die Säulen der pazifistischen Nachkriegsordnung.

Professor Hironaka spricht sich vehement gegen den »Schutz« durch US-amerikanische Kernwaffen aus. »Als Opfer von Atombomben hat sich Japan gegen die Herstellung solcher Waffen ausgesprochen. Also muss man auch zum Schutz durch Atomwaffen nein sagen.« Stattdessen habe Tokio durch seine Politik die Atomwaffen legitimiert. Ein weiterer Beleg dafür seien geheime Zusatzprotokolle zum 1960 erneuerten Bündnisvertrag zwischen Japan und den USA, in denen Tokio der Einführung von Nuklearwaffen stillschweigend zustimmte. Trotz massiven Widerstands der Öffentlichkeit, erinnert sich Toshio Hironaka, wurde Tokio durch dieses Bündnis fest in die Sicherheitsarchitektur Washingtons eingebunden.

Die militärische Präsenz der USA in Japan sorgt seitdem wiederholt für innenpolitische und bilaterale Konflikte, wie die Kontroverse um die Verlegung des US-Luftwaffenstützpunkts Futenma auf der Insel Okinawa gezeigt hat, die im Frühjahr dieses Jahres zum Rücktritt von Premier Yukio Hatoyama führte.

Auch für Takashi Yamane, Experte für Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Kommunistischen Partei Japans, ist ein Nein zu US-amerikanischen Atomwaffen eine historische Verpflichtung Japans. Besonders im Atomwaffensperrvertrag sieht Yamane das Potenzial für ein nachhaltiges internationales Engagement seines Landes, zumal dieser Prozess im Mai dieses Jahres – bei den Protesten gegen den Stützpunkt auf Okinawa – wieder an Dynamik gewonnen hat.

So wie Yamane fordert Katsuko Kataoka, Direktorin der japanischen Vertretung der Internationalen Ärzte für die Verhütung von Atomkriegen (IPPNW), dass die Tokioter Regierung in Sachen nuklearer Abrüstung Führungsstärke beweist.

Bisher haben sich Japans Regierungen jedoch zunehmend vom Nachkriegspazifismus distanziert. Bereits 1954 wurden unter der Bezeichnung »Selbstverteidigungskontingente« Streitkräfte gebildet. Spitzfindige Gesetzesauslegungen und Verfassungszusätze erlaubten diesen »Selbstverteidigungskontingenten« später auch die Teilnahme an »unbewaffneten« Friedensmissionen in Irak und an Hilfseinsätzen für die USA in Afghanistan.

Trotz der Verpflichtung, weniger als ein Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auszugeben, zählt Japans etwa 240 000 Mann starke Truppe heute zu den weltweit modernsten Streitkräften – getragen von einem Militärbudget in Höhe von jährlich 40 bis 45 Milliarden US-Dollar.

Besonders aus Anlass von Kontroversen mit China und Nordkorea werden in Nippon immer wieder Stimmen laut, die eine weitere Modernisierung des Militärs und eine Reform von Artikel 9 der Verfassung fordern. Vor allem die nukleare Bewaffnung der Koreanischen DVR seit 2006 hat bei Konservativen in Japan den Drang nach eigenen Atomwaffen verstärkt. Mit der Umwandlung seiner Militärbehörde in ein Verteidigungsministerium 2007 hat Japan angedeutet, dass es gewillt ist, seine militärische Handlungsfähigkeit auszubauen.

Bis heute kämpfen viele Überlebende der Atombombeneinsätze des Jahres 1945 um eine staatliche Anerkennung. Viele seien an Strahlungsrückständen erkrankt, erklärt Katsuko Kataoka, würden aber offiziell nicht als Opfer anerkannt. Amtlich zählt Japan etwa 226 000 Menschen, die an den Folgen der Bombenabwürfe leiden und über 70 Jahre alt sind. Doch trotz 2009 erlassener Richtlinien würden nicht einmal zwei Prozent der Überlebenden als Hibakusha registriert, beklagt Takashi Yamane.

Professor Hironaka meint, ein Engagement für den Erhalt der japanischen »Friedensverfassung« lasse sich heute nur noch schwer mit dem Begriff »Pazifismus« erklären. Der Krieg, wie er ihn in Hiroshima erleben musste, sei eine Verletzung der Menschenwürde. 65 Jahre nach Hiroshima und Nagasaki gebiete der Schutz der Menschenwürde den Verzicht auf Krieg und erst recht den Einsatz von Atomwaffen zur Lösung von Konflikten.

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