Der Internationale Gerichtshof erkennt die Unabhängigkeit Kosovos an. Zu Recht?
Präzedenzfall mit weitreichenden Folgen
Von Hannes Hofbauer
Am 22. Juli 2010 hat der Internationale Gerichtshof (IGH) die kosovarische Unabhängigkeitserklärung vom 17. Februar 2008 für rechtens erklärt. De facto ist er damit der US-Position sowie der Mehrheit der EU-Staaten gefolgt, die vor der Abspaltung Kosovos von Serbien versucht hatten, über die UNO eine »überwachte Unabhängigkeit« ausrufen zu lassen. Dies scheiterte an Russland. Den Ahtisaari-Plan implementierten USA und EU-Mehrheit daraufhin im Alleingang.
De jure gilt weiterhin die UN-Resolution 1244, die Kosovo als Bestandteil Jugoslawiens bzw. Serbiens garantiert. Der als Kolonialverwalter eingesetzte »Hohe Repräsentant« der UNO regiert das Land offiziell statusneutral. Der IGH-Spruch beschränkte sich auf die Einschätzung der Unabhängigkeitserklärung. Er machte keine Aussagen über das Recht auf Sezession. Spitzfindig interpretiert hat der IGH bloß festgestellt, dass die vom Parlament in Pristina ausgerufene Selbstständigkeit nicht gegen internationales Recht verstoßen hat, obwohl sie nicht vom zuständigen »Hohen Repräsentanten« bzw. seiner Hoheitsverwaltung ausgesprochen wurde. Dieser Widerspruch ist auffallend.
Die Anrufung des IGH und die damit einhergehende Internationalisierung der Frage wurde von Belgrad vorangetrieben. Sich nach dem Spruch auf die Losung »Kosovo ist serbisch« zurückzuziehen, wie sie vom Außenministerium zu hören war, kann die Defensive, in die Serbien geraten ist, nicht überwinden. Ganz zu schweigen vom fragwürdigen Umgang mit der kosovarischen Wirklichkeit, wo 90 Prozent der Bevölkerung – die Albaner eben – keine serbische Hoheit über das Land akzeptieren.
Geopolitisch hat der IGH-Spruch wesentliche Auswirkungen. Im seit den 1990er Jahren tobenden Meinungsstreit zwischen völkerrechtlichen und menschenrechtlichen Lösungsansätzen von Krisen hat sich der IGH eindeutig positioniert. Der völkerrechtswidrige NATO-Angriff auf Jugoslawien am 24. März 1999 war ja in der Kriegspropaganda der Westallianz für die Menschenrechte der Albaner geführt worden. Und beendete gleichzeitig die Ära des kodifizierten Völkerrechts, wie es z. B. in der KSZE-Schlussakte ausführlich festgelegt worden war. Je nach Bedarf postulierte und mithin instrumentalisierbare »Menschenrechte« müssen seither als Legitimation für Waffengänge (z. B. auch in Afghanistan) herhalten.
Vorbildcharakter hat die gegen den Willen Belgrads erfolgte Unabhängigkeitserklärung Kosovos auf Sezessions- und Unabhängigkeitsbewegungen sonder Zahl. Im zerfallenen Jugoslawien ist es sowohl den Serben in der »Republika Srpska« als auch den Albanern in Makedonien nun schwerer zu erklären, warum sie sich nicht Serbien anschließen bzw. aus ihrem Staatsverband lösen sollten. Ganz zu schweigen von den Serben in Nordkosovo, die jede Verwaltung aus Pristina ablehnen. Doch der Präzedenzfall reicht über den Balkan weit hinaus. Schon hat sich die Führung von Transnistrien gemeldet und Anspruch auf dieselbe Behandlung wie Kosovo angemeldet. Immerhin existiert in Tiraspol seit fast 20 Jahren eine von Moldawien unabhängige Administration. An den Rändern Georgiens hatte bereits die Anerkennung Kosovos durch westliche Staaten dazu geführt, dass Moskau seinerseits Abchasien und Südossetien als unabhängige Staaten anerkannt hat.
Vor dem Schattenboxen um die Einschätzung des IGH-Spruchs kann man leicht die Tatsache übersehen, dass Kosovo mitnichten unabhängig ist. Das war auch von den USA gar nicht beabsichtigt. Militärisch sowieso. Mit Camp Bondsteel hat sich das Pentagon die größte Basis in Europa aufgebaut. Aber auch die zivile Administration liegt offiziell in fremden Händen. Laut Verfassung steht der »Hohe Repräsentant« über Regierung und Parlament. Politische und wirtschaftliche Selbstbestimmung findet nicht statt. Die Nutznießer dieser »überwachten Unabhängigkeit« sind vor allem die Kolonisatoren selbst, die zu Zig-Tausenden ihre Konten füllen: Unter Kürzeln wie NATO/KFOR, UNMIK, EULEX und Hunderten NGOs bietet sich ein breites Experimentierfeld in militärischer, juristischer und verwaltungstechnischer Hinsicht. Sie alle leben bestens von den ungeklärten Verhältnissen, für deren Klärung sie sich vermeintlich im Land befinden.
Serbiens Plan von 2007, territoriale Integrität zu bewahren und gleichzeitig substanzielle Autonomie des Kosovo zu gewähren, wird mittlerweile nicht einmal mehr in Belgrad durchgehend ernst genommen. Die Vernunft würde eine Trennung entlang des Flusses Ibar nahe legen. Damit müsste ein Entkolonialisierungsschub einhergehen. Doch einer solchen Zukunft stehen mehrere Hindernisse im Weg: die Regierung in Pristina als verlängerter Arm der US-Außenpolitik und jene in Belgrad als zunehmend am Gängelband der EU befindliche; sowie die dahinter liegenden Interessen in Washington und Brüssel, wobei die EU noch in ihren eigenen Reihen mit Abweichlern zu kämpfen hat. Der vollständige Rückzug Russlands aus der Planungsgruppe schwächt zudem jene Kräfte in Serbien, die ihr Heil nicht im demütigen Bitten um eine EU-europäische Randständigkeit erblicken.
Von Brüssel ausgestreute Andeutungen in Richtung EU-Mitgliedschaft sind für Kosovo unseriös. Die EU, die ohnedies über die Währungs- und Privatisierungshoheit verfügt, wird sich hüten, mit geopolitischen Interessen der USA zu kollidieren. Der Status quo ist für beide praktisch, auch wenn er auf dem Rücken der albanischen und serbischen Bevölkerung ausgetragen wird.
Hannes Hofbauer, 1955 in Wien geboren, ist Verleger und Publizist. Er veröffentlicht regelmäßig Beiträge in »Neues Deutschland«. Vor zwei Jahren ist von Hofbauer im Promedia Verlag das Buch »Experiment Kosovo. Die Rückkehr des Kolonialismus« erschienen.
Trennung als einzige Alternative
Von Norbert Mappes-Niediek
Die Unabhängigkeit Kosovos war unausweichlich; dem trägt das Gutachten der Haager Richter Rechnung. Das ist kein moralisches Urteil über die Berechtigung des Kampfes für die Unabhängigkeit. Auch ist damit nicht gesagt, dass die Republik Kosovo als Staat ein Erfolg wird. Das würde man zum Beispiel von vielen afrikanischen Staaten auch nicht behaupten. Trotzdem glaubt niemand, dass die Kolonialherren besser dort geblieben wären.
Überhaupt erhellt die Parallele zur Kolonialgeschichte das Verhältnis zwischen Serbien und Kosovo noch am besten. Wie die Briten oder die Franzosen in Afrika hat Serbien 1912/13 ein wirtschaftlich rückständiges Gebiet mit einer a-nationalen Bevölkerung in einem Feldzug unter seine Kontrolle gebracht. Im Königreich Serbien und später im Königreich Jugoslawien war die albanische Bevölkerungsmehrheit für die Serben eine Gattung von »Vor-« oder »Urmenschen«, die jedenfalls nicht mittels individueller Bildung auf den Stand der anderen gebracht werden konnten. Im kommunistischen Jugoslawien hat sich daran zunächst wenig geändert. Die Bildungs- und Aufbauleistung der Jahre zwischen 1966 und 1980 kam für eine Integration schon zu spät und reichte gerade aus, um das Gegenteil zu erreichen: Sie rief den albanischen Nationalismus hervor.
Noch heute tragen die Ansichten von Serben und Albanern über einander deutlich den kolonialen Stempel. Die Albaner seien im Grunde schlicht und gutartig, würden aber von »Halbgebildeten« aufgeputscht, ist die Meinung in Belgrad. In Pristina dagegen sind die Serben noch immer das heimliche Vorbild. Anders als durch Trennung ließ sich dieses komplexe Verhältnis nicht lösen. Wer es nicht glaubt, möge bei Frantz Fanon nachlesen, dem Denker der Entkolonialisierung. Ein Blick auf die Entkolonialisierung lehrt auch, dass kreative Zwischenlösungen, Dominien oder völkerrechtliche Mandate die Misere bloß verlängern.
Ist denn die Unabhängigkeit Kosovos nicht aber ein gefährlicher Präzedenzfall für instabile Staaten, etwa im Kaukasus, in Afrika oder Lateinamerika? Kaum. Das Völkerrecht regelt (ungeachtet seines Namens) die Verhältnisse zwischen Staaten, nicht die zwischen Völkern. Wie Staaten zustande-kommen, liegt außerhalb seines Blickfelds. Das ist auch gut so: Das vielfach gebeugte und missbrauchte Völkerrecht leidet schon so unter Legitimitätsproblemen. Würde es sich auch noch ein Urteil über innerstaatliche Konflikte anmaßen, würde es entweder zu einem gefährlichen Manipulationsfaktor oder einfach zur Lachnummer.
Die Furcht vor der Vorbildwirkung hält einige europäische Staaten, allen voran Spanien, davon ab, die Unabhängigkeit Kosovos anzuerkennen. Am spanischen Beispiel lässt sich die geringe Reichweite des Präzedenz-Arguments gut illustrieren: Mit Kosovo haben die zentrifugalen Bestrebungen von Basken oder Katalanen, ihre Stärke und ihre Radikalität nichts zu tun. Ein Kosovo, dem man die Unabhängigkeit verweigern würde, könnte baskische und katalanische Separatisten allenfalls für eine Weile resignieren lassen: Die Erklärung der Unabhängigkeit, könnten sie denken, ist keine Option, weil ihr neuer Staat sich dann wie Taiwan ins völkerrechtliche Niemandsland stellen würde. Das demokratische Spanien könnte aber mit bloßer Resignation eines Bevölkerungsteils nicht existieren. Es muss so oder so um die Anerkennung aller seiner Bürger werben. Und wenn es hart auf hart käme, würden Basken und Katalanen das Schicksal des »undefinierten« Taiwan dem eines polizeilich und militärisch fremdkontrollierten Landesteils, wie Kosovo es war, wohl allemal vorziehen.
Möglich ist allerdings, dass jetzt auch fragwürdige, mafiös kontrollierte Gebilde wie Transnistrien, der Osten der Republik Moldau, mit mehr Erfolg nach völkerrechtlicher Legitimität trachten könnten. Aber selbst das wäre nicht unbedingt ein Unfall, denn gerade für solche Fälle wurde das Völkerrecht ja erfunden: Mächtige mit Macht aus fragwürdigen Quellen werden in ein internationales Rechtssystem eingebunden, damit sie einander nicht länger regellos bekämpfen. Machtzentren, die ein-ander jede Legitimität absprechen, erkennen einander an. Gerade wer die Prinzipien des Völkerrechts gegen den Pseudo-Moralismus der Ära Bush verteidigen will, sollte nicht zu genau fragen, woher die Subjekte des Völkerrechts ihre Legitimität nehmen.
Die territoriale Integrität von Staaten ist nach wie vor ein hohes Gut; mit Formeln wie der, dass »jedes Volk seinen Staat« haben müsse, macht man es sich zu leicht. Aber der Güter höchstes ist die territoriale Integrität nicht mehr. In den letzten zwanzig Jahren haben die Menschenrechte als Legitimationsquelle für einen Staat an Bedeutung gewonnen. Die Zeiten, da ein Staat mit seinen Subjekten, den »Unterworfenen« also, nach Gutdünken verfahren konnte, sind vorbei. Kein Staat kann es mehr als »Einmischung in die inneren Angelegenheiten« zurückweisen, wenn von außen Einfluss auf die öffentliche Meinung genommen wird. Solche Einflüsse sind im Zeitalter des Internet allgegenwärtig; abwehren lassen sie sich nur noch mit totalitärer Herrschaft. Dass mächtige Staaten ihre Macht nutzen und Druck ausüben, wie es im Fall Kosovo natürlich der Fall war, hat kein Völkerrecht je verhindert.
Nach dem Kosovo-Gutachten muss man in der Tat erwarten, dass Separatisten sich ermuntert fühlen. Staaten werden es entsprechend weniger leicht finden, die gewaltsame Unterdrückung von Minderheiten international zu legitimieren. Sie werden andere Wege finden müssen, ihre Bürger bei der Stange zu halten.
Norbert Mappes-Niediek, Jahrgang 1953, ist seit fast 20 Jahren freier Südosteuropa-Korrespondent. Er arbeitet zurzeit für zahlreiche deutschsprachige Zeitungen, darunter die »Frankfurter Rundschau«, die »Berliner Zeitung« und »Der Standard«. Als Buch erschien von Mappes-Niediek u. a. »Balkan-Mafia. Staaten in der Hand des Verbrechens – Eine Gefahr für Europa« im Ch. Links Verlag.
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