Tarifmehrheit statt Tarifeinheit? Grundsatz »Ein Betrieb – ein Tarifvertrag« gekippt

Arbeitsverhältnisse

  • Lesedauer: 2 Min.
Im Ratgeber Nr. 960 vom 11. August 2010 begann unser Autor, Prof. Dr. JOACHIM MICHAS, einen Beitrag zum Urteil des Bundesarbeitsgerichts, das den Grundsatz der Tarifeinheit kippte. Im zweiten Teil des Beitrags widmet er sich weiteren Folgen dieses Beschlusses.

Es ist durchaus nicht realitätsfern, über weitere Folgen der Tarifmehrheit nachzudenken, die das künftige Arbeitsleben im Lande nachhaltig beeinflussen können. Dazu zählen die zunehmende Zersplitterung der Tariflandschaft, mehr Arbeitskämpfe, Druck auf das Tarifniveau durch Dumpingtarifverträge, die Spaltung von Belegschaften und auch die Ignoranz des Prinzips »Gleicher Lohn für gleiche Arbeit«, das ohnehin selten realisiert wird.

Ein weiteres, grundsätzliches Problem liegt in der Rolle des Tarifvertragsrechts in der deutschen Arbeitsrechtsordnung. Es ist neben dem gesetzlich geregelten Arbeitnehmerschutzrecht (Arbeitszeitgesetz, Kündigungsschutzgesetz, Mutterschutzgesetz u. v. a. m.) eine weitere entscheidende Säule des Arbeitsrechts.

Für die Arbeitnehmer nachgerade lebenswichtige Arbeits- und Vergütungsbedingungen werden zwischen den Sozialpartnern ausgehandelt und finden in den Tarifverträgen ihre Existenzweise. Dazu gehören die Höhe des Arbeitsentgeltes, die Lohn- und Gehaltsgruppen, Zuschläge jeglicher Art, wöchentliche Dauer der Arbeitszeit, Urlaubsgeld, Jahressonderzahlungen, vermögenswirksame Leistungen, Urlaubsdauer über den Mindesturlaub hinaus u. a. m.

Nun könnte man sagen, die Tarifmehrheit im Betrieb belebt das Tarifgeschehen, ob indes zugunsten der Arbeitnehmer sei dahingestellt. Man darf doch in diesem Zusammenhang nicht darüber hinwegsehen, dass die Tariflandschaft jetzt schon kaum übersichtlich ist.

Im Jahr 2009 gab es in Deutschland rund 72 800 gültige Tarifverträge, davon 35 Prozent Verbands- und 65 Prozent Firmentarifverträge, und hierin eingeschlossen die zahlreichen Abkommen über speziellen Rationalisierungsschutz, über Urlaubsgeld, Jahressonderzahlungen u. a. m. Selbst wenn natürlich nur jeweils eine geringe Anzahl von Tarifverträgen Anwendung findet – der zumeist rechtsunkundige Arbeitnehmer im Betrieb findet sich nur schwerlich zurecht. Nicht überall gibt es Betriebs- und Personalräte, die hier helfen könnten. So erfreulich die Zulassung der Tarifmehrheit in den Betrieben und die Durchsetzung des Art. 9 Grundgesetz auch ist, ob sie für den einzelnen Arbeitnehmer insgesamt vorteilhaft ist, bleibt fraglich.

Ein namhafter bundesdeutscher Arbeitsrechtler beklagte schon vor Jahren den Zustand des deutschen Arbeitsrechts als »Loseblattsammlung«. Sie fördert weder Rechtssicherheit noch stabile Rechtsverhältnisse. Die Tarifmehrheit ändert hieran nichts.

Es bleibt abzuwarten, wie sich die Gestaltung der Tariflandschaft nunmehr in den Betrieben auswirken wird und inwieweit es Politik, DGB-Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden gelingt, eine stabilere Rechtslage zu erreichen.

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