Neue Verfassungsrichter kippen Renten-Urteile ihrer Vorgänger
Rentenstrafrecht
1. Die ursprüngliche Konzeption, das Rentenstrafrecht mit angeblich überhöhten Gehältern zu begründen, ist bekanntlich durch die Urteile des BVerfG vom April 1999 und Juni 2004 zwei Mal verworfen worden. Die Rentenkürzung auf das Durchschnittsentgelt wurde nun mit dem Argument gerechtfertigt, dass die Personen, die eine Weisungsbefugnis gegenüber dem MfS gehabt hätten, rentenrechtlich nicht besser gestellt werden dürften als die Mitarbeiter des MfS.
Nachdem diese These bereits im Gesetzgebungsverfahren sehr umstritten war, hatte das Sozialgericht Berlin nach gründlichen eigenen Recherchen nachgewiesen, dass es eine Weisungsbefugnis des betroffenen Personenkreises gegenüber dem MfS nicht gab. Dieser Tatsache konnte sich auch das BVerfG nicht entziehen.
Beim Lesen des erneuten Urteils gewinnt man jedoch den Eindruck, dass die Richter diese Erkenntnis nur widerwillig zur Kenntnis nahmen. In einem kleinen Absatz von acht Zeilen wird lediglich gesagt, dass eine Weisungsbefugnis gegenüber dem MfS ein »ungeeignetes« Kriterium für eine Rentenkürzung sei, weil nur der Minister für Staatssicherheit weisungsbefugt war.
Man hätte erwarten müssen, dass Verfassungsrichter deutlich aussprechen, dass ein solches Kriterium, selbst wenn es bestanden hätte, rentenrechtlich nicht relevant sein kann. Eine solche klare Aussage fehlt. Dafür findet man an anderer Stelle – aber in diesem Zusammenhang – die Feststellung, dass die Minister der DDR wegen ihrer Systemtreue und politischen Zuverlässigkeit fest in das System der Überwachung und Informationsbeschaffung des MfS eingebunden waren. Das gelte auch für den Kläger, der zwar gegenüber dem MfS nicht weisungsbefugt war aber als Minister eng mit diesem zusammen arbeitete.
Solche Aussagen haben zwar keinerlei rentenrechtliche Bedeutung, sie sind aber geeignet, den Kläger öffentlich zu diskreditieren. Das gleiche gilt für die Feststellung, dass alle von der Rentenkürzung erfassten Personen, welche an der Spitze der staatlichen Verwaltung standen, durch das Politbüro der SED berufen worden seien und »Förderer des Systems« waren.
2. Die Rentenkürzung nach dem 1. AAÜG-Änderungsgesetz von 2005 knüpft – wie bereits gesagt – nicht mehr an der Entgelthöhe an, sondern benutzt als Begründung die Behauptung, die betroffenen Personen seien Teil eines Systems der Selbstprivilegierung gewesen.
Die Gesellschaft für Bürgerrecht und Menschwürde hatte in ihrer Stellungnahme an das BVerfG im März 2008 darauf hingewiesen, dass sich der Gesetzgeber bei dieser Begründung nicht mehr auf den Einigungsvertrag berufen kann, der für die Überführung der Zusatz- und Sonderversorgungen die Möglichkeit vorgesehen hatte, »ungerechtfertigte Leistungen abzuschaffen und überhöhte Leistungen abzubauen«.
Die Verfassungsrichter des Jahres 2010 ließen dieses Argument nicht gelten. Mit einer regelrechten Zungenakrobatik wurde im Beschluss gesagt, dass ein rentenrechtliches Fortwirken des Systems der Selbstprivilegierung verhindert werden sollte und dass ein solches Ziel einer verfassungsrechtlichen Überprüfung standhielte.
Damit wurde auch die Kritik aus den Urteilen des BVerfG von 1999 und 2004 vom Tisch gewischt, dass als Beweis für überhöhte Gehälter von der Regierung keinerlei Analysen zur Lohn- und Gehaltsstruktur vorgelegt wurden. Die von Kaufmann und Napierkowski erstellten Gutachten darüber, dass im Staatsapparat der DDR keine überdurchschnittlich hohen Gehälter gezahlt wurden, spielten keine Rolle mehr.
Nach Meinung der Richter besteht jetzt, nachdem auf eine bestimmte Entgelthöhe als Kriterium verzichtet wurde, keine Notwendigkeit mehr, Erhebungen der tatsächlichen Gehaltsstruktur vorzunehmen. Sie flüchten sich dagegen – wie vom Gesetzgeber vorgegeben – in den schwammigen Begriff »Selbstprivilegierung«, für den es keine Maßstäbe und Kriterien gibt.
Die an die Ausübung einer Funktion als Minister oder Stellvertreter des Ministers anknüpfende Entgeltbegrenzung sei geeignet, einen »Gemeinwohlzweck« zu erreichen. Die Kläger seien »Förderer des Systems« gewesen, und in Bezug auf den jetzt erfassten Personenkreis sei der Schluss des Gesetzgebers gerechtfertigt, dass »diese Personengruppen bei generalisierender Betrachtungsweise leistungsfremde, politisch begründete und damit überhöhte Arbeitsverdienste bezogen haben«. Der Gesetzgeber sei befugt, gegenüber spezifisch eingegrenzten Gruppen im Blick auf deren allgemein privilegierte Sonderstellung in der DDR ohne langwierige Ermittlungen zur Einkommens-, Qualifikations- und Beschäftigungsstruktur Rentenkürzungen vorzunehmen.
Das ist das genaue Gegenteil von dem, was das BVerfG 1999 und 2004 geurteilt hat. In diesen Urteilen wurde ausdrücklich verlangt, dass bei einer Rentenkürzung auf Werte unterhalb der Beitragsbemessungsgrenze Tatsachen und Kriterien zugrunde gelegt werden, die in den tatsächlichen Verhältnissen eine Entsprechung finden und den Schluss rechtfertigen, dass überhöhte Entgelte an die vom Gesetz erfassten Gruppen gezahlt worden sind.
Was an nachweisbaren »Privilegien« übrig bleibt, sind der Anspruch eines Ministers auf Wohnungsversorgung aus dem Kontingent des Ministerrates (der Kläger wohnte in einer »Plattenbauwohnung«), die Pacht eines Kleingartengrundstücks, der Zugang zur Wohnungsrenovierung, der Aufenthalt in Ferienheimen der Regierung und die Gesundheitsversorgung im Regierungskrankenhaus.
Die Verfassungsrichter übergehen die Feststellungen des Sozialgerichts Berlin, dass all diese Dinge nichts mit der Rentenbemessung zu tun haben. Sie sagen im Gegenteil: »Dieser Befund trägt im Rahmen des hier besonders weiten Einschätzungsermessens die Annahme des Gesetzgebers, dass unabhängig von der persönlichen und fachlichen Eignung im Einzelfall die an solche Führungskräfte der DDR gezahlten Entgelte zu einem gewissen Teil nicht als durch Leistung erworben, sondern als Belohnung für politische Anpassung und unbedingte Erfüllung des Herrschaftsanspruchs der SED anzusehen sind.« Diese »hinreichenden Anknüpfungspunkte für eine typisierende Rentenbegrenzung wegen überhöhter Honorierung« verstoßen nach Auffassung der Verfassungsrichter 2010 auch nicht gegen Artikel 14 GG.
Braucht es noch Begründungen dafür, dass ein solches Urteil ein Missbrauch des Rentenrechts als politisches Strafrecht darstellt?
3. Auch in vielen anderen Fragen verlassen die Verfassungsrichter 2010 die klaren und einleuchtenden Positionen der Urteile von 1999 und 2004. Das gilt zum Beispiel für die für das wertneutrale Rentenrecht wichtige Aussage, dass eine für die DDR nützliche Tätigkeit allein kein Grund sein darf, eine Rentenkürzung vorzunehmen.
Zweimal wurde in den Urteilen 1999 und 2004 der gewählte Kürzungsmechanismus kritisiert und als verfassungswidrig verworfen. Die »fallbeilartigen« Rentenkürzungen auf das Durchschnittsentgelt seien schon im Ansatz als Merkmal einer Typisierung oder Pauschalisierung verfehlt und unvertretbar. Weder der Gesetzgeber noch das BVerfG 2010 können begründen, weshalb der 1999 und 2004 als verfassungswidrig verworfene »Fallbeileffekt« nunmehr als Rechtsfolge an die ausgeübte Tätigkeit gebunden wird. Warum dieser Effekt plötzlich verfassungsmäßig gerecht sein soll, wird im Urteil nicht gesagt.
Die Verfassungsrichter behaupten, dass das Rentenstrafrecht seinen Ursprung schon in der DDR habe. Durch die Mitarbeit am Staatsvertrag vom 18. Mai 1990 und am Rentenangleichungsgesetz vom 28. Juni 1990 kann ich bezeugen, dass es niemals der Wille der letzten Volkskammer der DDR war, die Zusatz- und Sonderversorgungen der DDR vollständig zu beseitigen und für »staatsnahe« Personen eine politisch motivierte Rentenkürzung vorzunehmen, so wie es später mit dem AAÜG zum Nachteil Hunderttausender DDR-Bürger geschehen ist.
Um auf ND-Leserfragen zu antworten, muss gesagt werden: Das Urteil steht in einem krassen Gegensatz zu den Regelungen nach 1945, die für schwer belastete Nazis getroffen wurden. Sie haben zum großen Teil ihre alten Pensionsansprüche behalten, zumindest aber eine normale ungekürzte Rente bezogen.
Prof. Dr. ERNST BIENERT
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