Chipkarten, Gutscheine oder Geld – Wie kann man armen Kindern mehr Kultur ermöglichen?
Start in die Kinderrepublik
Von Heinz BuschkowskyDie Chipkarte für Kinder könnte der Start in eine neue Kinderrepublik sein. In eine Gesellschaft, die die Belange der Kinder wirklich ernst nimmt und in den Mittelpunkt stellt. Die Schluss macht damit, über Kinder zu reden und Geldscheine zu meinen.
Das Bundesverfassungsgericht hat der Bundesregierung zurecht die Hausaufgabe gestellt, das Existenzminimum für Kinder in Hartz-IV-Familien neu zu berechnen. Ich finde, das sollte nur ein Anfang auf dem Weg in einen Paradigmenwechsel in der Familienpolitik und insbesondere der Förderung von Kindern sein.
Die Grundbedürfnisse von Kindern gehen über Essen, Trinken und Wohnraum weit hinaus. Gerechte Chancen auf Bildungserwerb, Förderung von Anlagen und Talent hin zu einer eigenständigen Persönlichkeit und einem selbstbestimmten Leben: Auch das gehört zu den elementaren Dingen, die eine Gesellschaft ihren Kindern bieten muss. Doch davon sind wir weit entfernt.
Von allen OECD-Staaten gibt Deutschland das meiste Geld für die Familienförderung aus. Beim Erfolg allerdings bilden wir gemeinsam mit Nordkorea und der Slowakei das Schlusslicht. Jedes vierte Kind verlässt bei uns die Schule ausbildungsunfähig. In keinem anderen Land sind die finanzielle Situation und die gesellschaftliche Stellung der Eltern so prägend für den Lebensweg der Kinder wie in Deutschland. Es sind gerade die Kinder in den sozial schwierigen Verhältnissen, die davon betroffen sind.
Andere Länder investieren überwiegend in Krippen, Kindergärten, Schulen, Klassengrößen, Lehrer und Erzieher. Das Geld fließt dahin, wo es tatsächlich bei den Kindern ankommt. Wir fördern Eltern und unterstützen das Familienbudget. Leider kommt es oft und gerade dort, wo es am nötigsten wäre, nicht bei den Kindern an. Regelsatz oder Kindergeld sind nicht selten der Finanzier des Suchtverhaltens oder der neuesten Unterhaltungselektronik dort, wo Eltern ihrer Verantwortung nicht gerecht werden.
Die Chipkarte soll das ändern. Sie macht Schluss mit dem ideenlosen Wettbewerb, um wie viel Prozent der Regelsatz erhöht wird. Mit der Chipkarte erhalten Kinder Anspruch auf zusätzliche Sachleistungen. Das ist eine neue Philosophie. Die Gesellschaft widmet sich unmittelbar selbst den Bedürfnissen der Kinder. Denn kein Geldschein kann Bildungsferne und mangelnde soziale Kompetenz von Eltern ausgleichen.
Die Chipkarte für Hartz-IV-Betroffene ist kein Ersatz für kostenlose Kitas, obligatorische Ganztagsschulen, freies Mittagessen, gebührenfreie Musikschulen und Lernmittel. Eine durchgreifende Reform unseres Bildungssystems an Haupt und Gliedern steht noch aus. Berlin ist mit dem beitragsfreien Kindergarten und der Reform mit Abiturmöglichkeit an jeder Schule hier weiter als andere.
Würde man das Kindergeld nur noch zur Hälfte direkt an die Eltern zahlen, dann stünde in jedem Bundesland jährlich eine Milliarde Euro zusätzlich für die Bildungseinrichtungen zur Verfügung. Ist sichergestellt, dass das Geld wirklich zweckgebunden bei den Kindern ankommt und nicht an den Gierfingern der Finanzminister hängenbleibt, dann ist mir um die Mehrheit für einen solchen Weg nicht bange. Und wenn das Prinzip der gesellschaftlichen Direktleistung für alle Kinder gilt, bleibt für die Vorwürfe der Stigmatisierung einzelner Familien oder des Generalmisstrauens gegen alle Eltern kein Raum. Mit dieser Annäherung an den Standard anderer kinderfreundlicher Gesellschaften käme das Ziel einer Kinder- und Bildungsrepublik doch noch greifbar nahe.
Heinz Buschkowsky, Jahrgang 1948, ist Bürgermeister des Berliner Bezirks Neukölln und Leiter der Abteilung Finanzen, Wirtschaft und Sport. Seit 1973 ist er Mitglied der SPD. Der Diplom-Verwaltungswirt Buschkowsky gehört außerdem dem Kreisvorstand der Neuköllner Sozialdemokratie an.
Neiddebatte programmiert
Von Annelie BuntenbachEin Gutes hat die Diskussion um die Chipkarte: Die Bildung unserer Kinder und speziell die Probleme für arme Familien stehen im Fokus. Aber: Die Neufestsetzung der zu niedrigen Hartz-IV-Regelsätze darf nicht »nur« auf Bildung und soziale Teilhabe eingeengt werden. So »billig« lässt sich das Urteil des Verfassungsgerichts nicht umsetzen. Allein schon für eine gesunde Ernährung müssen die Regelsätze angehoben werden.
Ein bundesweites Chipkartensystem ist mit unüberschaubaren technischen und bürokratischen Hürden verbunden. Die einlösenden Stellen wie Vereine und Musikschulen müssten auch auf dem »flachen Land« für die Kinder erreichbar sein. Was nützt eine Chipkarte, wenn gar kein Angebot vorhanden ist oder nur qualitativ fragwürdige Nachhilfefirmen ein Geschäft wittern. Dass im Flächenland Schweden ein solches System gerade nicht aufgebaut wurde, sollte stutzig machen.
Der mit der Chipkarte verbundene Generalverdacht gegenüber Eltern im Hartz-IV-Bezug, Geldleistungen nicht zu Gunsten ihrer Kinder zu verwenden, ist eine ebenso beliebte wie falsche Unterstellung, die durch Tatsachen nicht zu untermauern ist. Im Gegenteil weisen Untersuchungen darauf hin, dass einkommensarme Eltern eher bei sich als bei ihren Kindern sparen. Dass es Gegenbeispiele gibt, ist bei zwei Millionen Kindern im Hartz-IV-Bezug schlicht der Größe der Gruppe geschuldet. Es befremdet, wenn die gleichen Politiker, die sonst die Autonomie der Familie hochhalten, einkommensarme Familien teilentmündigen wollen.
Der DGB lehnt Sachleistungen nicht per se ab. Sie dürfen aber nicht zu Stigmatisierung führen. Arme Kinder darf man nicht am Schulranzen erkennen. Eine sinnvolle, diskriminierungsfreie Sachleistung wäre ein kostenfreies Mittagessen in der Schule für alle Kinder und endlich die Lehrmittelfreiheit für Bücher bundesweit einzuführen.
In der Frage Geld oder Chipkarte für Bildung und soziale Teilhabe gibt es einen dritten Weg: Direkte Investitionen in die soziale Infrastruktur. Zusätzliche Fördermaßnahmen an Schulen und Kitas hätten den Vorteil, dass auch Kinder von Familien profitieren können, die nicht im Hartz-IV-Bezug stehen. Das heißt am Beispiel Nachhilfe, dass nicht einige Kinder im Bedarfsfall ein Guthaben für ein privates Bildungsinstitut auf einen Chip geladen bekommen, sondern dass direkt in der Schule zusätzliche Fördermaßnahmen angeboten werden. Bei Bildungs-Chipkarten nur für »Hartz-IV-Kinder« ist hingegen eine gesellschaftliche Neiddebatte programmiert.
Die Lösung über einen Ausbau der Infrastruktur ist nicht umsonst zu haben, aber letztlich alternativlos. Eine Bildungsoffensive »aus einem Guss« darf nicht zwischen armen Kindern und anderen unterscheiden. Sie darf nicht an unterschiedlichen Zuständigkeiten von Bundesressorts scheitern und nicht am deutschen Bildungsföderalismus. Das unsinnige Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern im Bildungswesen nach Artikel 104b Grundgesetz sollte zumindest gelockert werden.
Vordringlich ist jetzt eine Erhöhung der Kinderregelsätze plus eine bessere Infrastruktur rund um Betreuung, Erziehung und Bildung. Diese kommt indirekt auch den Eltern zugute. Die bisherigen Sätze haben in Verbindung mit einem hochselektiven Bildungssystem zu »Vererbung« von Armut geführt. Das können wir uns im Interesse der Kinder und zur Vermeidung eines Fachkräftemangels von morgen nicht leisten.
Annelie Buntenbach, Jahrgang 1955, ist Mitglied des geschäftsführenden DGB-Bundesvorstands. Sie hat das Institut Solidarische Moderne mitgegründet und gehört dem Wissenschaftlichen Beirat des globalisierungskritischen Netzwerks Attac an. Annelie Buntenbach ist Mitglied der Grünen und saß für ihre Partei acht Jahre im Bundestag.
Schwarz-gelbes Nullsummenspiel
Von Martin BehrsingGeht es nach den Vorstellungen der Arbeits- und Sozialministerin Ursula von der Leyen (CDU) soll Kindern aus Hartz-IV-Familien ab 2012 der Zugang zu Nachhilfe, kostenlosem Schulessen und Musikunterricht mit einer Chipkarte ermöglicht werden. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass diese Pläne Unsinn mit weitreichenden und schlimmen Folgen für die betroffenen Kinder und Eltern sind. Zum einen könnten die Pläne sich als juristischer Flop erweisen, da Hartz IV ein abgeschlossenes und pauschaliertes Leistungssystem ist. Zum anderen hatte das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 9. Februar dem Gesetzgeber aufgegeben, eigenständige Regelsätze für Kinder zu entwickeln, weil sie keine kleinen Erwachsene sind, sondern eigenständige Bedürfnisse haben. Chipkarten oder Gutscheine wären somit keine neue Berechnungsgrundlage. Eltern und Kinder brauchen auch keine von oben verordnete Bevormundung, welche Bildungs- und Freizeitangebote sinnvoll sind und bei wem sie wahrgenommen werden. Erst recht nicht, wenn die Wirtschaft das ganze auch noch sponsern soll. Der Besuch eines Punkkonzerts von einem Jugendlichen würde dann wohl als Kultur nicht mehr durchgehen.
Die Vorstellungen, dass ausgerechnet die Wirtschaft als Sponsor für die Chipkarten gewonnen werden soll, kann man als einen Affront gegen die Betroffenen bezeichnen. Es war die Wirtschaft, die die Menschen in die Erwerbslosigkeit entlassen hat bzw. sie jetzt zu Hungerlöhnen beschäftigt. Schlimmer kann man Betroffene nicht verhöhnen. Hier wird der Versuch unternommen, dass Kinder sich demnächst für die Erwerbslosigkeit ihrer Eltern schämen müssen, weil diese nicht mit Geld umgehen können, und die Wirtschaft tritt als wohltätiger Sponsor für deren Kinder auf.
Fast kann man den Eindruck gewinnen, dass mit Nachhilfeunterricht, sechs bis acht Musikstunden im Jahr und ein paar Zoobesuchen die Welt für Kinder aus Hartz-IV-Haushalten wieder in Ordnung ist. Denn mehr als 200 Euro jährlich oder monatlich 16,67 Euro darf der Spaß für Kinder nicht kosten. Das Bundesverfassungsgericht hat eindeutig festgestellt, dass der im Regelsatz enthaltende Anteil für die Bildung der Kinder nicht ausreicht. Es sprach eindeutig von Bildung, ohne eine Bewertung des angestrebten Bildungsgrades zu benennen. Schließlich hat jedes Kind eine andere Leistungs- und Bildungsfähigkeit. Kinder werden nicht auf einmal deshalb dümmer, weil ihre Eltern erwerbslos werden. Genau aber das meint Ursula von der Leyen, wenn der berechtigten Forderung, den Kindern mehr Geld auszuzahlen, eine Absage erteilt und dies damit begründet wird, dass das Geld dann für die Nachhilfe immer noch nicht reicht.
Bildung besteht nicht nur aus Nachhilfe. Gerade diese ist Aufgabe der Schulen und bestimmt nicht Aufgabe wirtschaftlich orientierter Nachhilfeinstitute. Es müsste einem Kind auch ermöglicht werden, andere Ressourcen zu nutzen, die eben nicht mit Gutscheinen oder, wie die FDP es möchte, durch zertifizierte Träger angeboten werden. Die Geschäfte, die dann manche machen, kann man sich schon jetzt gut vorstellen. Bereits heute ist es unsinnig, was manche Bildungs- und Beschäftigungsträger für erwachsene Erwerbslose anbieten.
Für die Regierung ist die Finanzierung der angedachten 200 Euro jährlich ein Nullsummenspiel. Gegenfinanziert wird das mit dem Wegfall des Elterngeldes bei Hartz IV und dem Zuschlag von Arbeitslosengeld I auf Hartz IV. Höhere Eckregelsätze sind nicht vorgesehen.
Martin Behrsing, 1960 geboren, ist Diplom-Sozialarbeiter und lebt in Bonn. Er ist Sprecher und Geschäftsführer des Erwerbslosen Forum Deutschland, das bundesweit für die Rechte von Erwerbslosen und von Armut betroffenen Menschen eintritt. Das Forum fordert u. a., den Hartz-IV-Eckregelsatz auf 500 Euro monatlich zu erhöhen.
www.erwerbslosenforum.de
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