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- Kurz, Nick, Luft & Hickel
Wie heißt diese Wirtschaft?
Es ist bemerkenswert, dass die gebräuchlichen Begriffe für das gegenwärtige Wirtschaftssystem – Kapitalismus und Marktwirtschaft – im öffentlichen Diskurs erst etwa drei Jahrhunderte nach Etablierung der wirtschaftlichen Verhältnisse auftauchen, die sie benennen wollen: Marktwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg und Kapitalismus in der neuen Krise
Als nach 1945 die Systemauseinandersetzung der kapitalistischen Welt mit dem real existierenden Sozialismus zentrales Moment der Weltentwicklung wurde, brauchte es im Westen zweier Begriffe, die eben nicht Kapitalismus und Sozialismus heißen sollten. Man nannte sie Marktwirtschaft und Planwirtschaft. Das waren die von Politik und Medien gefundenen politisch brauchbaren Namen für Zentralverwaltungswirtschaft und freie Verkehrswirtschaft, den Grundbegriffen der neoliberalen Freiburger Schule der 1940er/1950er Jahre.
Natürlich kann man die Wirtschaftsordnungen auch vom Markt her betrachten Nur geht diese Sicht am Kern der Wahrheit, weil an den entscheidenden Merkmalen des Kapitalismus vorbei. Bei Marx, der die Produktion zum Standort der Wirtschaftsbetrachtung wählte, geht es um Produktions- und Eigentumsverhältnisse, um das Verhältnis von Arbeit und Kapital. Vom Markt her gesehen erscheinen nicht Arbeiter und Kapitalist als die zentralen Figuren des Wirtschaftsgeschehens, sondern die Marktteilnehmer, die Käufer und Verkäufer. Der arbeitende Mensch erscheint dann nur in zweierlei Gestalt: als Verkäufer seiner Ware Arbeitskraft und als Käufer von Subsistenzmitteln.
Im ersteren Zusammenhang ist er, sofern er seine Ware Arbeitskraft zu ihrem Wert bezahlt bekommt, ein Warenbesitzer und -verkäufer wie jeder andere; von Ausbeutung ist dann nicht die Rede; im zweiten Zusammenhang ist er gar der König Kunde, der angeblich das Wirtschaftsgeschehen dirigiert und für alles, auch für jede wirtschaftliche Perversität, die Verantwortung trägt.
Marx hat die objektive Täuschung, welche die marktwirtschaftliche Sicht hervorbringt, deutlich benannt: Sie präsentiert »in der Tat ein wahres Eden der angeborenen Menschenrechte. Was allein hier herrscht, ist Freiheit, Gleichheit, Eigentum. (...) Freiheit! Denn Käufer und Verkäufer einer Ware, z. B. der Arbeitskraft, sind nur durch ihren freien Willen bestimmt. (...) Gleichheit! Denn sie (...) tauschen Äquivalent für Äquivalent. Eigentum! Denn jeder verfügt nur über das Seine.«
Das Wort Kapitalismus war in der herrschenden Politik und ihren Medien sowie in der etablierten Wirtschaftswissenschaft bis in die 1980er kaum zu finden. In der gegenwärtigen Krise wurde es im öffentlichen Diskurs aber unentbehrlich. Zu sehr entblätterte der Kapitalismus seine täuschenden Verkleidungen, zu stark und zu sichtbar die soziale Polarisierung, auch die entfesselte kapitalistische Gier, als dass dies alles allein mit marktwirtschaftlicher Theorie zu erklären wäre. Zumal die Marktwirtschaftslehre systemische Ursachen von Wirtschaftskrisen ausdrücklich leugnet. Der Hilferuf der Gräfin Dönhoff »Zivilisiert den Kapitalismus!«, färbte den Zeitgeist.
Aber das bürgerliche Denken kann den Begriff Kapitalismus niemals wirklich akzeptieren. Es wird wieder zur Marktwirtschaft zurückkehren wollen. Herr Joachim Gauck, dieser Kundige in Sachen Denunziation, nennt denn auch die heutige Wirtschaft die »als ›Kapitalismus‹ denunzierte Marktwirtschaft«. Aber so weit überlisten wie früher wird sich die kapitalistische Wirklichkeit wohl auch sprachlich nicht mehr lassen.
In der wöchentlichen ND-Wirtschaftskolumne erläutern der Philosoph Robert Kurz, der Ökonom Harry Nick, die Wirtschaftsexpertin Christa Luft und der Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel Hintergründe aktueller Vorgänge.
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