»Ich bin die Hauptmahlzeit«
Joseph Roth, der Journalist und Romancier, in neuen Ausgaben
Das Hotel Foyot, meldet Joseph Roth am 2. November 1937 dem Freund Stefan Zweig in London, werde auf Befehl des Pariser Magistrats gerade demoliert, und er sei als letzter Gast dort am Vortag ausgezogen. Er leidet. Sechzehn Jahre hat er in dem Haus gewohnt, und er hat das Gefühl, wieder eine Heimat verloren zu haben. In einem Feuilleton, das 1938 im Pariser »Neuen Tage-Buch« erscheinen wird, beschreibt er, wie er im Bistro gegenüber dem Abriss zuschaut, diesem unfassbaren Vorgang, und er wundert sich ein bisschen, dass die Hand ruhig bleibt und sich nicht an den Kopf fasst. »Die Füsse sind wund«, schreibt er, »das Herz ist müde, die Augen sind trocken. Das Elend hockt sich neben mich, wird immer sanfter und grösser, der Schmerz bleibt stehen, wird gewaltig und gütig, der Schrecken schmettert heran und kann nicht mehr schrecken. Und dies ist eben das Trostlose.«
Da hat Roth, der Jude aus der »weltverlassenen Einsamkeit« Galiziens, der fabelhafte Erzähler, der nirgendwo zu Hause ist und seine Traurigkeit, die Verzweiflung über den Lauf der Welt im Alkohol ertränkt, nur noch kurze Zeit zu leben. Er stirbt im Mai 1939. Hermann Kesten, der viele Jahre in seiner Nähe verbringt und 1956 dafür sorgt, dass das Werk wieder zu deutschen Lesern kommt, nennt ihn einen »großen Prosaisten«. Vierzehn Romane, dazu Erzählungen, Essays und ungefähr tausend Artikel habe er hinterlassen, sagt Kesten in seinem Roth-Porträt, aber es dauerte lange, bis auch der Journalist wirklich wahrgenommen wird.
Die Texte sind ja da. Sie beanspruchen immerhin die Hälfte der letzten, vor zwanzig Jahren bei Kiepenheuer & Witsch erschienenen und vor einiger Zeit noch einmal aufgelegten sechsbändigen Gesamtausgabe. 1994 kam sogar noch eine Sammlung mit Berliner Feuilletons dazu (»Unter dem Bülowbogen«). Trotzdem kennen die meisten diesen Schriftsteller nur als Romancier. Jetzt, nachdem das Urheberrecht erloschen ist, stapeln sich bei den Sortimentern die Taschenbuchausgaben der Romane und Erzählungen. Kostproben des Feuilletonisten Roth gibt es nur in seinem Kölner Hausverlag. Der »Radetzkymarsch« etwa, das beste und berühmteste Buch, ist gleich in sechs verschiedenen Editionen zu haben. Die wichtigste, die einzig authentische, hat allerdings der Züricher Manesse-Verlag im Programm: gebunden, handlich und schön, versehen mit Nachwort und einem knappen Anmerkungsteil. Sie stützt sich konsequent auf den Text der Erstausgabe von 1932 und merzt zum ersten Mal all die Nachlässigkeiten, Fehler, Versehen und Eingriffe aus, die noch auf Kesten zurückgehen und sich seither von Ausgabe zu Ausgabe fortgeschleppt haben. Aufschlussreich ist der am Ende des Bandes abgedruckte sechsseitige Editionsbericht. Er listet einige der »zahllosen Freiheiten im Umgang mit dem Original« auf, verursacht durch »redaktionelle Selbstermächtigung« oder Unachtsamkeit. Und da geht's nicht bloß um Kommas, die Roth wegließ und die man später, das strenge Regelwerk im Blick, nachgeliefert hat.
Der hinreißende Journalist Joseph Roth tritt unterdessen im Wallstein-Verlag gegen die Geringschätzung und Nichtbeachtung seiner Brotarbeiten an. Helmuth Nürnberger, der 1981 in der Monografien-Reihe bei Rowohlt die bündigste (und immer noch lieferbare) Lebens- und Werkbeschreibung vorgelegte, hat jetzt mit ausgewählten Essays, Reportagen und Feuilletons einen Roth-Band ediert, wie es ihn noch nicht gab. Die Texte, chronologisch geordnet, halten sich erstmals wieder an die Erstdrucke, und dazu gibt es im faktenreichen Anhang ausführliche Kommentare mit Anmerkungen zu den Texten, ihre Entstehung und Wirkung, dazu Auskünfte über die Lebensumstände und das Weltbild ihres Verfassers.
Joseph Roth ist noch Germanistikstudent in Wien, als er 1915 erste Gedichte (später wird er heftig bestreiten, Gedichte verfasst zu haben) und kleine Prosastücke publiziert. Er schreibt zunächst Stadt- und Reiseimpressionen, über Operette und Film, und er fällt gleich auf: durch seinen Witz, seine Leichtigkeit, seinen Charme. Das bissige Diktum des Karl Kraus, ein Feuilleton sei der Versuch, Locken auf einer Glatze zu drehen, trifft auf ihn nicht zu. Roth, der glänzende, melancholische Beobachter, wehrt sich heftig und entschieden gegen »die Unterschätzung eines ganzen Fachs«. »Man kann Feuilletons nicht mit der linken Hand schreiben«, erklärt er. Und: »Ich bin nicht eine Zugabe, nicht eine Mehlspeise, sondern eine Hauptmahlzeit.« Und selbstbewusst fügt er noch hinzu, er mache keine »witzigen Glossen«: »Ich zeichne das Gesicht der Zeit.»
Der Satz steht mit Recht als Titel über dieser Sammlung. Sie zeigt Roth als unbestechlichen, sozial engagierten, feinfühligen Autor, der sich immer wieder als großer Erzähler beweist. Er hat als Journalist schnell Karriere gemacht und mit seinen Zeitungsartikeln beträchtlichen Ruhm erworben. Er schreibt für die großen Blätter jener Jahre, wird Redakteur der angesehenen »Frankfurter Zeitung« (für die er 1925 als Korrespondent nach Paris geht), schreibt über das Sechstagerennen in Berlin ebenso wie über Friedrich Ebert, dem er seine uneingeschränkte Sympathie bekundet, über sein Abenteuer Russland oder eine Reise ins »mittägliche Frankreich«, wo er, fasziniert vom Licht und vom Meer, Lyon, Avignon, Marseille und Nizza sieht. Er ist genau, empfindsam und stets auf der Seite der kleinen Leute. Noch zuletzt, im Pariser Exil, längst zerstört vom übermäßigen Alkoholgenuss, bäumt er sich auf und kämpft verbissen mit seinen Artikeln gegen die Nazis. Doch er lässt hier und da auch schon mal seiner Fantasie freien Lauf und liefert statt Realität Dichtung, augenfällig etwa, wenn er, der Monarchist, 1935 bei einem Aufenthalt in Wien an die Beisetzung seines »alten Kaisers« Franz Joseph denkt: »Es regnete sacht und eindringlich und unaufhörlich – und nie im Leben werde ich diesen Regen vergessen.« Er kommt vom Regen in seinem Feuilleton gar nicht mehr los, er müsse ein ganz besonderer Regen gewesen sein, sagt er, in Wahrheit jedoch war es, wie uns Helmuth Nürnberger aufklärt, ein heller, freundlicher Tag. Die Sonne schien, aber zur Stimmung des Joseph Roth, zu seiner Trauer, passt zwanzig Jahre nach diesem Ereignis kein strahlendes Licht. Und so lässt er es in seiner Erinnerung einfach fürchterlich regnen.
Es sind meist kürzere Beiträge, die in diesem Band stehen und durch ihren sprachlichen, poetischen Glanz faszinieren, aber natürlich fehlt auch die umfangreichste Arbeit nicht, der große Essay »Juden auf Wanderschaft« von 1926, Roths Bekenntnis zur jüdischen Herkunft und zu seiner östlichen Heimat, ein Bericht über das Dasein der Ostjuden und über jüdisches Leben in den westlichen Metropolen, über die Amerika-Auswanderer und (allzu wohlwollend, was erst zehn Jahre danach in einem Nachwort für die geplante Neuausgabe relativiert wird) über die Juden in der Sowjetunion. Roth gibt sich bewusst subjektiv, auch polemisch in den Partien, die mit den Vorurteilen gegenüber den Ostjuden aufräumen.
Separat ist die Schrift, glücklicher Einfall des Verlegers, auch in einem großartig aufgemachten, mit historischen Fotos reich illustrierten Band bei Christian Brandstätter in Wien erschienen. Die Bilder, eindrucksvoll arrangiert, manche doppelseitig gedruckt, beschwören noch einmal die versunkene, von den Nazis ausgelöschte Welt mit ihren Kindern und Alten, ihrer Armut, ihren Festlichkeiten, ihrer Überlebenskunst.
Mit Helmuth Nürnbergers Sammlung der Essays, Reportagen und Feuilletons beginnt der Wallstein-Verlag übrigens eine Reihe von Roth-Publikationen. Geplant ist für den Herbst 2011 eine wissenschaftliche Ausgabe der Korrespondenz mit Stefan Zweig. Weitere Editionen sollen folgen. Hoffentlich ist auch eine neue Sammlung der Briefe dabei, schließlich ist der Band von 1970, besorgt noch von Hermann Kesten, seit langem vergriffen. In diesem Zusammenhang bittet der Verlag alle Besitzer von Briefen und Dokumenten, die Leben und Arbeit Joseph Roths betreffen, sich mit ihm in Verbindung zu setzen.
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