Todesstoß für den Generalstreik
Neues Buch zur Massenstreikdebatte aus anarchosyndikalistischer Sicht
»Der Generalstreik ist die unter den gegenwärtigen Umständen einzig mögliche, von den ökonomisch-technischen Verhältnissen des Kapitalismus selbst geschaffene und bedingte Form der Revolution.« Arnold Roller ist nur eines der Pseudonyme des durch seine Broschüren vielleicht einflussreichsten deutschen Syndikalisten des frühen 20. Jahrhunderts, Siegfried Nacht. Sein Zitat gibt die Revolutionsvorstellung des Anarchosyndikalismus bis heute wieder. Ähnlich den Konzepten anderer Randströmungen der Arbeiterbewegung ist seine Geschichte eine des Scheiterns.
Mit beidem – der Herausbildung der auf den Generalstreik orientierten lokalistischen gewerkschaftlichen Gruppen und Verbände als Vorläufer des Anarchosyndikalismus und ihrer Isolation in der Arbeiterbewegung – beschäftigt sich aus anarchosyndikalistischer Sicht die kurze Studie Helge Döhrings mit dem etwas umständlichen Titel »Abwehrstreik…Proteststreik… Massenstreik? Generalstreik!«.
Döhring geht von einem vermeintlichen logischen Dilemma aus: »Dem normalen Menschenverstand muss es verwunderlich erscheinen, dass die Arbeiterklasse ihre mächtigste Waffe kaum einsetzt: Den Generalstreik.« Die historischen Grundlagen dafür sieht der Autor in der Zurückweisung der Generalstreikidee in der »Massenstreikdebatte« seit 1905 durch alle drei Strömungen der Sozialdemokratie, was durch die Vorreiterrolle der SPD innerhalb der Zweiten Internationale auch in anderen europäischen Ländern nachgewirkt habe. Denn, so Döhring, nicht nur Gewerkschaften und revisionistische Parteirechte, sondern auch das Zentrum um Karl Kautsky und die Linksradikalen seien »ganz auf die Zentralgewerkschaften« und ihre Unterordnung unter die parlamentarische Strategie fixiert gewesen. Ausschluss und Isolierung der Lokalisten hätten die Generalstreikidee endgültig aus der Arbeiterbewegung verbannt. Vom Vorsitzenden der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands und später auch des ADGB, Carl Legien, ist überliefert, dass für ihn der Generalstreik ein »Generalunsinn« war
Von Interesse dürfte aber weniger die historische Aufarbeitung der Geschichte der Vorkriegsoppositionen innerhalb der Sozialdemokratie sein, die etwa in Dirk Müllers »Gewerkschaftliche Versammlungsdemokratie und Arbeiterdelegierte vor 1918« bereits eine weitaus bessere Darstellung erfahren hat. Auch die Aufarbeitung der Massenstreikdebatte bleibt teilweise insbesondere in Hinsicht auf die Positionen der Linksradikalen oberflächlich.
Neben dem Wiederabdruck der beiden zentralen lokalistischen Dokumente Rollers und des Arztes Raphael Friedeberg ist insbesondere die aktuelle Perspektive von Belang. Denn Döhring sieht gerade in einer globalisierten Welt die Prinzipien des Syndikalismus – Internationalismus, Föderalismus und Primat des ökonomischen Kampfes – als einzige Alternative zur Standortlogik der traditionellen Gewerkschaften an, um auch offensiv ausgerichtete Kämpfe führen zu können.
Döhrings Grundansicht, die Syndikalisten und die von ihnen vertretene Praxis des Generalstreiks könnten sich lediglich in Phasen beginnender Industrialisierung und eines Vakuums von Verbänden der Arbeiterbewegung entfalten, bringen ihn allerdings dazu, die Anwendung dieser »mächtigsten Waffe« als Möglichkeit ausschließlich in den neuen industriellen Standorten der »Billiglohnländer« (Döhring) zu erwägen. Sollte dies zutreffen, so wäre der frühe Sieg der sozialdemokratischen Gewerkschaften gegen ihre antiautoritären Konkurrenten tatsächlich von Dauer und Rollers Position ad absurdum geführt.
Helge Döhring (Hg.): Abwehrstreik…Proteststreik…Massenstreik? Generalstreik! Streiktheorien und -diskussionen innerhalb der deutschen Sozialdemokratie vor 1914 – Grundlagen zum Generalstreik mit Ausblick, Edition AV, Lich 2009, 151 S., 14Euro.
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