Verrückt nach Russland

Unerkannt durch Freundesland – es war eine ganze Bewegung

  • Christina Matte
  • Lesedauer: 9 Min.
Ekkehard Maaß in der Transsibirischen Eisenbahn – »ein Erlebnis«.
Ekkehard Maaß in der Transsibirischen Eisenbahn – »ein Erlebnis«.

Im Juni eröffnete im Berliner Stadtbezirksmuseum Lichtenberg eine Ausstellung mit dem Titel »Unerkannt durch Freundesland«. Erzählt wird von DDR-Bürgern, die ein Transitvisum nach Rumänien nutzten, um ohne Genehmigung und abseits der offiziellen Routen die Sowjetunion zu bereisen. Jetzt hat das Museum die Exposition wegen des großen Besucherinteresses bis zum 25. Oktober verlängert. Das große Interesse, woher rührt es?

Vor den Aufstellern mit Reiseberichten und Schnappschüssen vom Alltagsleben in allen Sowjetrepubliken treffe ich ältere Ostberliner, die sich dem Land, das es nicht mehr gibt, immer noch verbunden fühlen. Da sind der Chemiker, der in Moskau studierte und dort persönliche Freundschaften schloss; das Ehepaar, das via Reisebüro und im Verbund der Reisegruppe Urlaub am Schwarzen Meer verlebte, und der einstige FDJler, der an der Trasse arbeitete. Freundesland – ja, das ist die SU, das Land Lenins und der Befreier, für viele DDR-Bürger gewesen. Zumindest hielten sie es dafür.

Andere Besucher zog es aus ganz anderen Gründen her: Da hatten junge, oft akademisch gebildete Leute verbotene Grenzen überschritten und ihre Abenteuerlust gestillt. Sie schlugen dem Reglement ein Schnippchen, lebten Träume aus, die sich am Arbeitsplatz, ihrem »Kampfplatz für den Frieden«, eben nicht erfüllen ließen. Das hatte etwas Subversives. Wie war das möglich? Was haben sie erlebt? Und welches Land haben sie gesehen?

Ulrich Henrici beschreibt ein Land ergreifender Naturschönheiten, oft armer, aber herzlicher Menschen. Einundzwanzig Mal hat er die Sowjetunion besucht, davon neunzehn Mal, jeweils für mehrere Wochen, mit einem Transitvisum. Er nennt das »halbillegal«. »Wir sind in Kiew oder Odessa einfach in den falschen Zug gestiegen. Der fuhr nicht nach Rumänien, sondern ins Landesinnere.« Wenn Henrici »wir« sagt, meint er eine Szene: die Unerkannt-durch-Freundesland-Bewegung, kurz UdF-Bewegung genannt. »Wir waren ein paar hundert oder tausend, man kannte diesen oder jenen. Wir tauschten untereinander die neuesten Tricks aus. Logischerweise durfte das außerhalb der Szene nicht bekannt werden.« Einer dieser Tricks: Auf der Rückseite des Fünfmarkstücks der DDR war das Staatswappen eingeprägt. »Man hat sich dann selbst Delegierungsschreiben gebastelt und sie abgestempelt. Dass das Wappen auf dem Papier seitenverkehrt war, ist nie jemandem aufgefallen. Solche ›Dokumente‹ waren sehr hilfreich.«

Heute ist sich Henrici allerdings nicht mehr sicher, ob die Szene und ihre Tricks wirklich »nicht bekannt« waren. Die Transitlösung sei ja nach den 68er Ereignissen in der CSSR eingeführt worden, als DDR-Bürger einige Zeit lang nicht in das Nachbarland fahren, es auch nicht durchqueren durften. »Aber als die CSSR wieder zugänglich war, behielt die DDR die Transitlösung bei. Vergaß sie nur, sie abzuschaffen? Oder duldete sie die Szene, um jungen Menschen wenigstens dieses Schlupfloch zu lassen? Warum, wenn man uns doch einmal aufgriff, war der KGB so freundlich?« Zwei Mal wurde Ulrich Henrici unterwegs verhaftet, sechs Mal mit je zehn Rubeln Strafe belegt: »Das war lächerlich, die hab' ich gern bezahlt.«

Henrici, Jahrgang 1941, hatte in der DDR als Biologie- und Chemielehrer gearbeitet. Nachdem achtzig Prozent der Schüler seiner Klasse die Konfirmation gewählt hatten, kam es zum Konflikt mit der Schulleitung, so dass er einen Weg suchte und fand, die Volksbildung zu verlassen. Er sei nie ein Staatsfeind gewesen, sagt er, und habe viel für die DDR getan. Konnte nur »Lügen und Heuchelei« nicht ertragen. Sein Geld hat er dann als Korrektor bei der »Märkischen Volksstimme«, als Musiker und als Bestattungsredner verdient. 1981 rief er beim SC Turbine Potsdam die Sektion Bergsteigen ins Leben, sie zählte bald hundert Mitglieder. Innerhalb der Sektion gründete er eine Technosportgruppe, eine schnelle Einsatztruppe, die immer half, wenn an Gebäuden, in großer Höhe Gefahr im Verzug war. Die Liebe zum Bergsteigen, die Sehnsucht nach den »ganz großen Bergen«, die es in der DDR nicht gab, führten Henrici in die Szene.

Mit Freunden aus seiner Sektion entdeckte er die sowjetische Bergwelt. Mehrfach fuhren sie in den Kaukasus, wo sie unter anderem den Elbrus und den Kasbek bestiegen. Oder sie reisten in die zentralasiatischen Republiken Kirgisien, Usbekistan, Kasachstan und Tadschikistan, durch den Tientschan bis zum Pamir oder in das Fan-Gebirge. Sie stießen in Regionen vor, die für »Valutabergsteiger« reserviert und ihnen als DDR-Bürgern eigentlich verwehrt waren; lernten unterschiedlichste Landschaften, Tierwelten und Menschen kennen, die ohne elektrisches Licht lebten, jedoch ihre Mahlzeiten mit ihnen teilten und ihnen einen Schlafplatz anboten. »Wenn ich das Bier einmal aus der Schnabeltasse trinken muss, kann ich noch immer Geschichten erzählen«, sagt der heute Neunundsechzigjährige.

Eine Geschichte ist die vom Pik Lenin, einem Siebentausender der Trans-Alai Kette, den sie erst beim zweiten Versuch bezwangen. Dabei verbrachten sie drei Tage im Lager III, in sechstausend Metern Höhe. Ein Orkan tobte und zerfetzte die Zelte, es gab Tote. Henrici und ein Freund aus Sofia überlebten in einer Schneehöhle. Am Tage nach dem Orkan stieß eine zwölfköpfige Bergsteigergruppe aus Irkutsk ins Lager III vor; mit fünf von ihnen schaffte er es bis zum Gipfel und ins Lager zurück. Ein hohes Flüssigkeitsdefizit, kein Benzin mehr, um Tee zu bereiten, was zu Herzschmerzen und Erfrierungen führte. Nach dem Einsturz der Schneehöhle übernachtete er auf dem blanken Gletscher, bevor er sich am nächsten Tag bis zum Lager I hinunterschleppte. Von dort, noch immer in viertausenzweihundert Metern Höhe, konnten er und der Freund aus Sofia mit einem Hubschrauber ins Basislager zurückgeflogen werden. Dort flog dann auch Henricis Identität als DDR-Bürger auf. Zunächst als Spion verdächtigt, verhörte ihn der KGB. Nachdem sich der Offizier von seiner Harmlosigkeit überzeugt hatte, wurde der Ton »immer freundlicher«, schließlich habe man sogar miteinander »gesoffen«. Leider hatte Henrici während seines Abstiegs seine abgedrehten Filmrollen im Lager II vergessen. Der Offizier versprach, sie holen zu lassen. Tatsächlich erreichten Henrici die Filme nach zwei Monaten per Post ...

Seine letzten Besuche hat er der ehemaligen Sowjetunion 1993 und 1999 abgestattet. »Da ging es schon los mit der Korruption, und es machte keinen Spaß mehr.« Er ist dann anderswo hingereist, unter anderem sechs Mal nach Afrika, wo er sechsundzwanzig Länder mit dem Jeep durchquerte und den Kilimandscharo bestieg.

Unerkannt durch Freundesland zog einst auch Ekkehard Maaß. Der Osten hatte schon früh eine besondere Anziehungskraft auf ihn ausgeübt. Zum einen, weil die Wurzeln seiner Familie bis ins vorrevolutionäre St. Petersburg reichten. Zum anderen, weil er auf dem Schulweg in der DDR stationierten Sowjetsoldaten begegnet war, die in den Wäldern seines Dorfes ihre »Sommerlager« hatten. Damals sah er sie zum ersten Mal, die »Menschen mit den traurigen Augen«. Um mit ihnen reden zu können, lernte er besser Russisch als seine Klassenkameraden und schloss mit ihnen Freundschaft. Sie seien in sein Elternhaus, in das Schönburger Pfarrhaus gekommen, wo sie »bei Kerzenlicht und Wein und der Mondscheinsonate von Beethoven ihren Seelenhunger nach Menschlichkeit« stillten. »Ich war verrückt nach Russland«, sagt Ekke Maaß.

Russland: Die erste Reise dorthin unternahm er 1978 als Philosophiestudent. Da war er schon mit Wolf Biermann befreundet und sang heimlich dessen Lieder. Weil er Unterschriften gegen Biermanns Ausbürgerung gesammelt hatte, wurde er zum »Gegenstand« eines »operativen Vorgangs« und exmatrikuliert. Da hatte er schon angefangen, mit Hilfe russischer Freunde Biermanns Texte ins Russische zu übersetzen und die Lieder Bulat Okudschawas, den laut Akten »stark pessimistischen und versteckt antisowjetischen« Sänger, ins Deutsche zu übertragen. »Mein Reisebegleiter war die Gitarre. Die Lieder Biermanns und Okudschawas haben mich durch das Land getragen.«

Das Baltikum, Russland, der Ural, Sibirien, Jakutien – Ekke Maaß besuchte oppositionelle Schriftsteller und Dichter, so Bulat Okudshawa, Andrei Bitow und Tschingis Aitmatow, als der schon Botschafter in Luxemburg war und sich gerade in Frunse (heute Bischkek) aufhielt. Das Transitvisum brauchte Maaß jetzt nicht mehr, er konnte sich über seine Freunde Einladungen besorgen. Wobei er den Radius der festgelegten Gebiete, in denen er sich aufhalten durfte, immer weiter ausdehnte. Dann der Süden des Reiches, der Kaukasus, Georgien. »Mir ging das Herz auf«, denkt er zurück. »Die Menschen dort kannten Goethe und Heine, sie hatten ein Bildungsniveau, das man nirgendwo sonst auf der Welt findet. Wir haben getafelt und gesungen, ich fühlte mich wie in der Kindheit. Zu Hause war die Stasi gerade dabei, mich zu zerrütten.« Die Akten bezichtigen Maaß der »staatsfeindlichen Hetze«. Unter anderem hatte er Lesungen sogenannter junger Autoren in seiner Wohnung organisiert, über ein anderes Demokratieverständnis diskutiert, Auszüge aus Rudolf Bahros Schrift »Die Alternative« in Umlauf gebracht. – Wer solche Lebensgeschichten heute nicht lesen mag, weil er sich »die DDR nicht kaputtmachen« lassen will, der sei sanft daran erinnert, dass diese bereits vor zwanzig Jahren implodierte.

Ekkehard Maaß gründete 1996 die Deutsch-Kaukasische Gesellschaft e.V. Seither ist er deren Vorsitzender und ehrenamtlicher Geschäftsführer. Er berät und betreut tschetschenische Flüchtlinge, nicht selten Folteropfer, publiziert zu kaukasischen Themen, hält Vorträge, organisiert Konferenzen. Noch immer gibt er als Zeitzeuge Konzerte mit den Liedern Okudschawas und Biermanns. In die Russische Föderation darf er wegen seiner Menschenrechtsarbeit seit 2001 nicht mehr einreisen.

Kuratiert hat die Ausstellung Cornelia Klauß. 2006 hatte sie bereits einen Film über die Szene gedreht, zusammen mit Frank Böttcher vom Lukas-Verlag gibt sie nun ein Buch darüber heraus, das zum Ende des Jahres erscheinen wird. Ihre Biografie erzählt sie knapp und nüchtern: Geboren 1962 in Dresden, Studium der Filmwissenschaften in Potsdam Babelsberg, Dramaturgin beim DDR-Fernsehen (»eine unangenehme Erfahrung«), parallel dreht sie Super-8-Filme. Mit dem Sozialismus hat sie es »lange versucht«. »Bis er mich im Frühjahr '89 ausspuckte: Die wollten mich nicht mehr, nicht umgekehrt. Das hat zu Verletzungen geführt.« Als man sie Jahre nach dem Zusammenbruch des Landes, das sie »ausgespuckt« hatte, fragte, ob sie nicht einen Dokumentarfilm über »Jugend in der DDR – Pionierlager oder FDJ« drehen wollte, wollte sie nicht. »Aber«, sagt sie, »da fiel mir etwas anderes ein. Auf der Erweiterten Oberschule sollten wir einen Aufsatz zum Thema ›Mein schönstes Ferienerlebnis‹ verfassen. Ein Mitschüler hatte mit seinen Eltern Leningrad besucht und darüber geschrieben. Einen freundlichen Bericht, in dem er allerdings auch erwähnte, dass die Wohnung der Gastgeber sehr beengt war, dass es Kakerlaken gab und viel getrunken wurde. Daraufhin durfte er kein Abitur machen.« So sei sie in das Thema hineingerutscht: wie »etwas andere DDR-Bürger ein etwas anderes Bild als das offizielle von ihren Reisen mitbrachten«. Wie sie an die Akteure herankam? »Kennst du einen, hast du alle.«

Stadthaus, Türrschmidtstr. 24, 10317 Berlin, Di.-Fr., So., jeweils 11 bis 18 Uhr

Ulrich Henrici am Berg
Ulrich Henrici am Berg
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