»Wir wollen so wie die anderen behandelt werden«

Türkischer Oppositionsführer zum EU-Beitritt und zur Politik Ankaras

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Kemal Kiliçdaroglu, geboren 1948, ist seit dem 22. Mai 2010 Vorsitzender der Cumhuriyet Halk Partisi (Republikanische Volkspartei). Die CHP ist mit 97 Parlamentssitzen die größte Oppositionspartei der Türkei. Der Kemalist Kiliçdaroglu bekam von der Presse wegen seiner ruhigen Art und der Ähnlichkeit mit Mahatma Gandhi den Spitznamen »Gandhi Kemal«. Mit ihm sprach für ND Martin Lejeune.

ND: Sie sind nicht einmal vier Monate Oppositionschef und haben mit dem Ja der Bevölkerung zur Verfassungsreform Mitte September bereits eine schwere Niederlage einstecken müssen. Warum waren Sie gegen die Neuerungen?
Kiliçdaroglu: Die Verfassungsreform war ein Angebot der Adalet ve Kalkinma Partisi (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung, die Regierungspartei AKP – d. Red.) an die Bevölkerung, um das es keinen wirklich offenen Diskurs in der Öffentlichkeit gab. Die Medienfreiheit ist im türkischen Staat immer noch zu sehr eingeschränkt. Die CHP und ich waren gegen das Referendum, weil sich die AKP das Justizministerium und damit die gesamte Rechtsprechung eines Landes unter den Nagel gerissen hat. Die Judikative eines Landes sollte aber unabhängig von Regierungsparteien Recht sprechen.

Sie waren kürzlich in Brüssel, wo sie das erste EU-Büro der CHP eröffneten. Dabei scheint es doch völlig unrealistisch, dass die Türkei vor 2025 in die EU kommt.
Wir sind eine politische Partei, die den EU-Beitritt anstrebt. Wir glauben, dass die Türkei ein Teil der zivilisierten Welt ist. Wir sind eine politische Partei, die meint, dass eine Zukunft, in der die Türkei in die EU integriert ist, auch der Europäischen Union Vorteile bringt, weil die Stimme einer solchen EU noch größeres Gewicht in der Welt haben wird. Die Türkei ist aufgrund der Größe ihrer Bevölkerung und ihrer geografischen Lage sicher nicht leicht zu verdauen für die EU. Deshalb verstehen wir, dass sich diese mit dem Integrationsprozess Zeit lässt.

Andererseits sind die Beziehungen der EU gegenüber der Türkei von einer Doppelmoral geprägt. Was die EU in der Öffentlichkeit erklärt, muss damit übereinstimmen, was sie uns hinter verschlossenen Türen sagt. Sonst besteht die Gefahr, dass die EU in der türkischen Bevölkerung falsche Erwartungen weckt. Wir wollen einfach nur wie die anderen Beitrittskandidaten behandelt werden.

Die Türkei scheint sich immer mehr von Europa ab- und dem Maghreb und der arabischen Halbinsel zuzuwenden. Außerdem orientiert sich die türkische Außenpolitik immer stärker in Richtung Kaukasus und Zentralasien.
Zur Zeit beobachte ich eine Achsenverschiebung in der türkischen Außenpolitik. Insbesondere die Iran-Politik gibt mir sehr zu denken. Wir als CHP wollen nicht, dass unsere Nachbarn in den Besitz von Atomwaffen kommen. Denn der Mittlere Osten ist ein kochender Hexenkessel. Wir wollen eine Region ohne Atomwaffen, dies betrifft auch Israel. Wenn es Iran nicht schafft, hinsichtlich seiner Atompolitik den Zuspruch des Westens zu bekommen, dann sollte die Türkei auch keinen gegenteiligen Kurs fahren. Die Türkei sollte nicht von der Politik der Vereinten Nationen abweichen. Jedoch sind wir nicht verpflichtet, bilaterale EU-Sanktionen gegen Iran mitzutragen. Wenn die Türkei allerdings ihre Beziehungen zu den östlichen Ländern, bis hin zu China, intensiviert, kann dies später auch für die EU von Nutzen sein. Jeder weiß, dass die Türkei ein wichtiges Transitland für Rohstoffe aus Ostasien in die EU-Länder ist.

Teilen Sie die Politik von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan gegenüber Israel?
Die CHP möchte nicht, dass sich die Beziehungen der Türkei gegenüber Israel verschlechtern. Wir möchten die Beziehungen zu keinem Land verschlechtern. Aber auch die CHP hält das israelische Embargo gegenüber dem Gaza-Streifen für ungerechtfertigt. Ich meine, dass Israel auf die Hamas zugehen und das Embargo aufheben sollte.

Sie haben für Oktober die Präsentation Ihrer wirtschaftspolitischen Strategie angekündigt. Wie wollen Sie den Schuldenberg der Türkei bewältigen?
Die hohen Zinszahlungen, ebenso wie die Massenarbeitslosigkeit, belasten die Entwicklung der Wirtschaft der Türkei sehr. Ich sehe mich in der Tradition Bülent Ecevits, jenes Parteiführers, unter dem die CHP große Erfolge hatte. Seine enorme Anerkennung in der Bevölkerung erreichte er vor allem durch die Propagierung eines antineoliberalen Wirtschaftsmodells.

Sie haben angekündigt, im Falle einer Regierungsübernahme durch Ihre Partei ein Gesetz über politische Ethik zu verabschieden. Bedarf es eines solchen Gesetzes wirklich?
Der Ton zwischen Abgeordneten im türkischen Parlament ist manchmal skandalös, etwa wenn sich Parlamentarier gegenseitig in der Debatte anschreien. Aber auch der Umgang der Polizei mit Demonstranten an Gedenk- oder Feiertagen ist nicht hinnehmbar. Gerade hat beispielsweise der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Türkei in drei Fällen wegen der Brutalität seiner Sicherheitskräfte verurteilt.

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