Warum lassen Sie kein gutes Haar an der Wiedervereinigung?
Kritische Fragen eines Gelegenheitslesers, Antworten eines ND-Redakteurs – ein Briefwechsel
Sehr geehrter Herr Hübner, als ehemaliger DDR-Bürger (Jahrgang 1953), der dieses Land im Februar 1988 per Ausreiseantrag verließ, weilte ich kürzlich in Berlin und kaufte mir – was ich auch zu DDR-Zeiten gelegentlich getan hatte – nach 22-jähriger Pause wieder einmal ein Exemplar der Zeitung »Neues Deutschland«.
Ich hatte gerade gemeinsam mit meiner Frau eine einwöchige Radtour absolviert – diesmal ging es »rund um Berlin«, wobei wir stellenweise auf dem so genannten Mauerradweg fuhren. Die vorangegangenen vier Jahre sind wir jeweils für ca. eine Woche entlang den Flüssen Elbe, Mulde, Saale, Oder und Neiße durch das Gebiet der ehemaligen DDR gefahren. Außerdem waren wir in den letzten 20 Jahren jedes Jahr mindestens zwei Mal in der ehemaligen DDR und konnten uns so von den rasanten äußeren Veränderungen im Bild der Städte und Gemeinden überzeugen. Aber vielleicht erlebt man das per Fahrrad noch intensiver.
Als »gelernter DDR-Bürger« hat man noch die alten Bilder im Kopf: vielerorts verfallene Gebäude im charakteristischen Einheitsgrau, löchrige Straßen, überfüllte Gaststätten und manches mehr, was die realsozialistische Tristesse ausmachte. Wenn man diese Bilder im Kopf hat und mit der heutigen Realität vergleicht – wozu man mit dem Blick »von außen« vielleicht leichter in der Lage ist als die Menschen, die den Prozess gleichsam als kontinuierlichen Prozess vor Ort erlebt haben –, kommt man nicht umhin, von einer gigantischen Aufbauleistung zu sprechen. Es ist fantastisch, was hier in den letzten 20 Jahren im wiedervereinigten Deutschland – bei allen Fehlern und Mängeln im Einigungsprozess – geleistet wurde. Wir haben die »blühenden Landschaften« auf unseren Touren durch die ehemalige DDR jedenfalls gesehen.
Ich kann verstehen, dass Menschen, die nach der so genannten Wende ohne persönliche Schuld ihre Arbeit und damit auch ihren sozialen Status eingebüßt haben und z. B. aus Altersgründen in der Gesellschaft nicht mehr richtig Tritt fassen konnten, sich die DDR vielleicht heimlich zurückwünschen – was automatisch die Wiedererrichtung der Mauer implizieren würde. (Denn ohne Mauer und Stacheldraht, ohne das Protektorat russischer Divisionen war die DDR nie lebensfähig, wie sich spätestens am 17. Juni 1953 erwiesen hat.)
Ich kann sogar verstehen, dass Menschen, denen es nach der Wende materiell besser geht – wozu nachgewiesenermaßen ein großer Teil der Rentner gehört –, über manches »im neuen System« klagen, weil sie sich von der Dynamik des Prozesses überfordert fühlen und weil im neuen System natürlich auch manches beklagenswert ist. Ich selbst habe »im Westen« auch nicht nur angenehme Erfahrungen gemacht.
Was ich aber nicht verstehen kann ist, dass man den Prozess der letzten 20 Jahre unter die apodiktische Negativ-Schlagzeile stellen kann »20 Jahre Teilung ohne Mauer«, wie das Ihre Zeitung anlässlich des 20. Jahrestages der Unterzeichnung des Einigungsvertrages tut. Mit der Headline »Licht und Schatten im Prozess der deutschen Wiedervereinigung« oder so ähnlich hätte ich mich durchaus einverstanden erklären können. Aber so habe ich mich über Ihre despektierliche Schlagzeile durchaus ein wenig geärgert – andererseits hatte sie aber auch einen gewissen Wiedererkennungswert mit dem »Neuen Deutschland«, das ich bis vor ca. 22 Jahren gelegentlich las, und das damals, wie Sie wissen, als Zentralorgan der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands figurierte. Auch damals war die Interpretation der Wirklichkeit reichlich einseitig, was mich – je nach Stimmungslage – ärgerte oder amüsierte.
Warum lassen Sie kein gutes Haar an der deutschen Wiedervereinigung - die für mich ein wunderbares Geschenk der Geschichte ist? Ich mutmaße: In den Redaktionsstuben des »Neuen Deutschland« herrscht doch noch mehr vom alten ideologischen Geist aus DDR-Zeiten, als Sie zugeben oder sich vielleicht auch nur selber eingestehen wollen. Ich befürchte, dass Ihnen der Fall der Mauer nicht recht war, und dass Ihnen das neue, wiedervereinigte Deutschland deshalb kaum etwas recht machen kann.
Und wenn Sie als Belege für die Teilung zwischen West und Ost empfehlen, Grundbücher zu studieren und sich die Armuts- und Reichtumsverteilung in Ost und West anzusehen, bitte ich Sie auch den Beitrag zu berücksichtigen, den die in der DDR herrschende politische Klasse dazu geleistet hat: Von der Enteignung der so genannten Großgrundbesitzer (auch Widerstandskämpfer gegen die Nazis) über die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft bis zur Enteignung der letzten Privatbetriebe in der DDR im Jahre 1972 – die DDR-Oberen haben nun wirklich nichts unterlassen, um private wirtschaftliche Initiative aus ideologischen Gründen von vornherein abzuwürgen.
Dass sich unter diesen Umständen Kapital und Besitz in Ost und West höchst unterschiedlich akkumulieren konnte, ist daher nicht nur dem Einheitsvertrag oder »raffgierigen Wessis« (die es leider auch gab), sondern vor allem der Politik derer zu verdanken, die in der DDR 40 Jahre das Sagen hatten. Was mir bei Ihnen missfällt, ist der einseitig ost-zentristische Blick, der sich allzu gern in der Opferrolle stilisiert.
Ich wünsche Ihnen – ohne alle Polemik oder gar Häme –, dass Sie doch noch im neuen Deutschland ankommen und damit dem Titel Ihrer Zeitung eine ungeahnte Aktualität verleihen. Wenn Sie die DDR-Geschichte kritisch reflektieren und die Ursachen für Unzulänglichkeiten oder neue Ungerechtigkeiten im neuen Deutschland nicht nur im Einigungsvertrag oder »im Anschluss« suchen, sind Sie für mich auch glaubwürdiger in der Lage, Kritik »an den Verhältnissen« zu üben.
Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir Ihre Meinung über mein Schreiben mitteilen würden.
Mit freundlichen Grüßen
Kraft-Thomas Liebig
Sehr geehrter Herr Liebig,
vielen Dank für Ihren nachdenklichen Brief, den ich schon deshalb gern beantworte, weil in der politischen Debatte, auch über die deutsche Einheit, oft genug mit Vorurteilen und simplen Schlagworten hantiert wird.
Unsere Schlagzeile »20 Jahre Teilung ohne Mauer« ist zweifellos eine Zuspitzung, aber keine despektierliche – es ist der komprimierte Befund der Studie eines Sozialverbandes. In dieser Studie, über die zahlreiche Zeitungen berichtet haben, wird ein Bild vom Stand der deutschen Einheit gezeichnet, das zeigt: Viele Menschen in Ost und West sind unzufrieden; für viele ist diese Einheit nicht das, was sie sich vorgestellt haben. Dem liegen nicht nur Gefühle, sondern Erfahrungen sowie wirtschaftliche, demografische und andere Daten zugrunde.
Wenn man die Arbeitslosigkeit und die soziale Lage auf einer Deutschlandkarte darstellt, dann tritt noch immer das Gebiet der DDR deutlich hervor, und zwar nicht im positiven Sinne. Die Grenzen verwischen nur sehr langsam. Natürlich wäre es schöner, wenn wir nicht mehr über die Ost-West-Frage reden müssten; auch ansonsten gäbe es genügend Stichworte für eine kritische Auseinandersetzung: Soziale Brennpunkte beispielsweise gibt es überall in Deutschland, Verschuldung, Bildungsprobleme und anderes sind bundesweite Themen.
Aber im Osten Deutschlands werden diese Schwierigkeiten überlagert und verstärkt durch die Folgen der Art und Weise, wie die deutsche Einheit zustande kam. Wir kritisieren in unserer Zeitung nicht dass, sondern wie die Einheit praktiziert wurde und wird – dafür finde ich den umstrittenen Begriff Anschluss passend. Die deutsche Einheit wird unter einem westzentrierten Blickwinkel verwirklicht; daran ändert auch eine Bundeskanzlerin aus Ostdeutschland nichts (übrigens die einzige Ostdeutsche in der Bundesregierung).
Ich will nicht behaupten, dass alle Firmen aus der DDR sich in der Marktwirtschaft hätten behaupten können. Aber dass die ostdeutsche Wirtschaft nach 1990 so dramatisch zusammengebrochen ist, hat entscheidend mit der Währungsunion zu tun, die mit Blick auf die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl übers Knie gebrochen wurde: Es war politischer Wille, Alternativen nicht zuzulassen. Diese politische Absicht wird auch erkennbar, wenn man sich ansieht, wie die Treuhandanstalt die DDR-Wirtschaft in kurzer Zeit privatisiert hat; und zwar ohne große Rücksicht auf Verluste, wie man der Tatsache entnehmen kann, dass die Treuhand ihr Geschäft mit einem riesigen Minus abschloss. Die westdeutsche Wirtschaft hat davon massiv profitiert und glänzende Geschäfte gemacht.
Ja, die DDR hat in ihrer Wirtschaftspolitik verhängnisvolle Fehler gemacht – vom ewigen Mangel an Ressourcen einmal ganz abgesehen. Ja, Privatbetriebe wurden massenweise enteignet; aber war das ein Grund, nach der Wende unter neuen politischen Vorzeichen den Ostdeutschen kaum eine Chance zu geben, wirklich Besitz vom bisherigen vermeintlichen Volkseigentum zu ergreifen?
Sie haben die DDR Anfang 1988 verlassen, und Sie werden dringende Gründe dafür gehabt haben. Es gab – das sehe ich heute wesentlich klarer als damals – an dieser DDR viel zu kritisieren. Wir haben uns in den letzten 20 Jahren im »Neuen Deutschland« damit auseinandergesetzt.
Nach der Wende haben wieder hunderttausende Menschen den Osten Deutschlands Richtung Westen verlassen; aus ganz anderen, ebenfalls dringenden Gründen. Ich glaube nicht – und da widerspreche ich Ihnen –, dass man heute immer noch die Hauptschuld am Rückstand und an den Defiziten des Ostens in den vermeintlichen DDR-Erblasten finden kann.
Natürlich hat der Staat viel für den Aufbau Ost getan – mit Steuermitteln, die übrigens auch von den Ostdeutschen aufgebracht werden. Aber blühende Landschaften – das sind eben nicht nur ein paar Wirtschafts- und Forschungsinseln, neue Autobahnen und Radwege, ein vernünftiges Telefonnetz, Einkaufspaläste und sanierte Altstädte. Dazu gehören Arbeitsplätze und Perspektiven für die Menschen, dazu gehören funktionierende soziale Strukturen und ein Sozialsystem, das den Menschen das Gefühlt gibt, gerecht behandelt zu werden.
Ich bin vor 25 Jahren zur Redaktion des »Neuen Deutschland« gekommen. In den vier Jahren bis zur Wende habe ich erlebt, wie ein Zentralorgan funktioniert. Die Wende war für uns zweierlei: eine große Erschütterung, weil in kürzester Zeit alle Gewissheiten einschließlich der eines sicheren Arbeitsplatzes wertlos wurden; aber auch ein Ausbruch aus ideologischen Zwängen. Allein schon deshalb wünsche ich mir die DDR, wie sie war, nicht zurück; und ich kenne auch niemanden, der das tut.
Aber das bedeutet doch nicht, die nötige Kritik an den heutigen Zuständen zu bremsen. Meinungsfreiheit ist ja gerade eine der erfreulichen Veränderungen. Dass sich das »Neue Deutschland« trotz aller Schwierigkeiten auf dem Markt behauptet, zähle ich ganz unbescheiden zu den Erfolgsgeschichten der deutschen Einheit, über die wir übrigens durchaus auch berichten.
Wir behaupten uns als bekennende »Sozialistische Tageszeitung«, wie im Zeitungskopf auf Seite 1 zu lesen ist. Es wird Sie deshalb nicht wundern, dass wir die politischen Zustände der Gegenwart deutlich kritisieren: soziale Ungerechtigkeiten, Kriegseinsätze der Bundeswehr, zunehmende Selbstherrlichkeit von Banken und Konzernen und vieles mehr. Insofern könnte ein neues Deutschland wirklich nicht schaden, und insofern finde ich unseren Zeitungstitel »Neues Deutschland« sehr passend.
Mit freundlichem Gruß
Wolfgang Hübner
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