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Friluftsliv – ein Wort fürs Lebensgefühl

Von Jotunheimen zum Sognjeford oder: Vergeblicher Versuch, die Norweger zu begreifen

  • Heidi Diehl
  • Lesedauer: 7 Min.
Fast kitschig schön – Berglandschaft in Jotunheimen am frühen Morgen
Fast kitschig schön – Berglandschaft in Jotunheimen am frühen Morgen

Nach drei Tagen bin ich mir ziemlich sicher: Das schlimmste, was man einem Norweger antun kann, ist, ihm einen halben Tag »Stubenarrest« zu verpassen. Was unweigerlich zu einer Art Innenraumkoller führen würde. Denn, solange die Füße nicht beim ersten Schritt vor die Tür festfrieren, zieht's ihn in jeder freien Minute hinaus. Die Norweger haben dafür sogar ein eigenes Wort: Friluftsliv. Ganz simpel übersetzt bedeutet es soviel wie »Leben unter freiem Himmel«. Das aber trifft es nur sehr ungenügend. Vielmehr ist Friluftsliv der Ausdruck für ein Lebensgefühl, man könnte auch sagen, es ist der Begriff für ein Besonderes, das ausschließlich Norweger besitzen. Oder würden Sie sich bei wenigen Graden über Null und Raureif auf den Gräsern kurzärmelig zum Frühstücken auf die Terrasse setzen? Für die einheimischen Gäste in der »Jotunheimen Fjellstue« das Normalste der Welt, und wahrscheinlich haben sie sich über uns Weicheier lustig gemacht.

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In diesem Hotel nahe Lom in Jotunheimen, dem höchsten Gebirge Norwegens, beginnen wir unser dreitägiges Experiment, von dem wir uns nicht nur tolle Naturerlebnisse erhoffen, sondern vor allem herausfinden wollen, wie die Norweger wirklich ticken.

Zwar ist es am Morgen noch bitterkalt, aber die Sonne lacht vom wolkenlosen Himmel und verzaubert die Natur in kitschig-schöne Postkartenmotive. »Heim der Riesen« wird Jotunheimen auch genannt, denn mit mehr als 250 Gipfeln über 1900 Meter Höhe – 20 davon knacken sogar die 2300-Meter-Marke – gehört das Gebirgsmassiv zwischen Sognefjord und Nordfjord zu den gewaltigsten Gebirgslandschaften Skandinaviens. Durch diese Landschaft führte einst – bis 1938, als die Autostraße fertiggestellt wurde – ein rund 140 Kilometer langer Handelsweg von Lom im Osten bis nach Skjolden am Sognefjord im Westen des Landes. Rund 20 Kilometer davon werden wir unter die Füße nehmen.

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Auf dem höchsten Punkt des Passes auf 1434 Meter Höhe an der Sognefjelhytta beginnen wir die Tour, fünf Stunden später sollen wir in Turtagrø ankommen, einem Ort der nur aus einer Herberge für Bergsteiger und Wanderer besteht.

Damit die Händler, die jahrhundertelang diesen Weg nutzten, bei Wind und Wetter nicht die Orientierung verlieren, errichteten sie als Wegweiser in kurzem Abstand Steinsäulen, die auch heute noch jedes GPS überflüssig machen. Auf unserem Stück Weg gibt's allein rund 300 davon. An Baumaterial hat es hier auf der »Varderekka« – so der Name des Wanderweges – nie gemangelt. Rund 400 Millionen Jahre alt sind die durch Magmatismus entstandenen Steine, die durch gewaltige Erdbewegungen ans Tageslicht befördert und durch Gletscherwanderungen breit verstreut wurden. Dazwischen wachsen nicht viel mehr als Gräser, Moose, Heidesträucher und Flechten, die Baumgrenze liegt hier auf dem 62. Breitengrad bei etwa 800 Metern.

Die Bodenbeschaffenheit lädt nicht gerade dazu ein, flotten Schrittes darüber hinwegzuwandern. Mal »schwimmt« man gewissermaßen über Seen von kleinen, durch Gletschereis rundgeschliffenen Steinchen, dann versperren riesige Findlinge den Weg, mal geht's über glitschige Brocken, die in kleinen Bächen liegen, um gleich darauf tief in dicken Moosteppichen zu versinken. Wir bewegen uns bestenfalls im Spaziergängertempo, anfangs noch jedes »Steinmännchen« fotografierend. Mitten im immer noch eisigkalten Nichts treffen wir auf ein winziges Zelt. Wer auch immer darin schläft, er muss das kälteabsorbierende Friluftsliv-Gen in sich tragen. Wir wecken den Naturburschen nicht, vielleicht hat er ja bis zum Morgengrauen in frostkalter Nacht den Sternenhimmel betrachtet, der hier, wo weder Smog noch störende Lampen den Blick trüben, gestochen scharf wie aus einem Gemälde daherkommt.

Gefühlt haben wir die Hälfte der Tour zurückgelegt, als wir am frühen Nachmittag eine Rast an einem See einlegen. Wie erstaunt sind wir jedoch, zu erfahren, noch nicht mal ein Drittel des Weges geschafft zu haben. Wollen wir vom Abendessen im Turtagrø-Hotel noch was abbekommen, bleibt nur, einen Gang höherzuschalten. Am Ende werden wir rund sieben Stunden unterwegs gewesen sein und froh, endlich die Füße unter dem Tisch ausstrecken zu können.

Das machen die Norweger auch, nur: Während wir uns bald hundemüde in die Betten zurückziehen, sitzen sie noch ewig und putzmunter beieinander und geben sich gegenseitig Tipps über ihren Lieblingstouren, die man natürlich unbedingt gegangen sein muss. Am nächsten Morgen zum Frühstück sind etliche Plätze unbesetzt, viele sind längst unterwegs zum nächsten Berg.

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Auf uns wartet an diesem Tag ein ganz anderes Abenteuer – zum ersten Mal Canyoning. Verpackt in dicke Neoprenanzüge und -socken, Schwimmwesten, Schuhe und mit Schutzhelm beginnt die Tour unterhalb eines tosenden Wasserfalls. Ein bisschen mulmig ist uns schon, zugeben allerdings würde das keiner. »Wie kalt denn das Wasser sei«, frage ich vorsichtig, bevor ich mich von einem Felsen ins schäumende Ungewisse stürze. »Nicht kalt, mindestens sechs Grad«, strahlt mich unser Guide Borge Håmsø an. Da ein Zurück nicht in Frage kommt, springe ich aus gefühlten zehn Metern in die Tiefe, die später – von unten besehen – bestenfalls drei bis vier Meter sind. Zwar versetzt das eisige Wasser den Körper für einen Moment in eine Art lähmenden Schockzustand, doch der weicht nach dem Auftauchen schnell einem wundersamen Glücksgefühl. Rund zwei Stunden hält es an, in denen wir durch Stromschnellen flutschen, über Steine rutschen, von Felsnasen springen, unter Wasservorhängen hinwegtauchen und durch Strudel drehen, bis schließlich die Kälte jedes Gefühl aus Händen und Füßen gesogen hat.

Nicht so bei unseren norwegischen Begleitern, die etwas belustigt zuschauen, wie wir – wieder trockenen Boden unter den Füßen – zitternd die Hände an heißen Teetassen wärmen. Und uns im Stillen fragen: Was haben die Wikingererben, was wir nie haben werden?

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Das herauszufinden, gelingt auch am dritten Tag nicht, der uns an den Ostrand des Sognefjords, den mit 204 Kilometer längsten Fjord Europas führt. Doch wenigstens haben wir inzwischen gelernt, dass man mit den Zeitangaben der Einheimischen sehr, sehr vorsichtig umgehen muss. Auf der sicheren Seite ist man, wenn man sie einfach grob verdoppelt. Auf unserer Tour an diesem Tag werden wir zumindest ein wenig den Vorhang lüften, hinter dem sich die Erklärung dafür verbirgt. Der Weg führt durch das schöne Utladalen, das Tal der Wasserfälle bei Øvre Årdal. Es sei »wie ein 20 Kilometer langer Axthieb« eine Verlängerung des Sognefjords zum Jotunheimen-Gebirge, umschreibt eine Werbebroschüre das schmale, steile Tal wenig prosaisch. Vom Taleingang bis zum Vettisfossen, dem mit 275 Meter höchsten naturbelassenen Wasserfall Norwegens im freien Fall, sind es etwa sechs Kilometer. Für Rigmor Solem, unsere Begleiterin, ein »leichter Weg von eineinhalb Stunden«. Zügig läuft sie los. Mit der Trittsicherheit einer Bergziege nimmt sie die in Wahrheit teilweise recht schmalen Wege, die am Rande eines Abgrunds entlangführen, während einige von uns ihre Not haben, nicht den Halt unter den Füßen zu verlieren. Wo immer der Weg breit genug ist, überholen uns Einheimische mit forschem Schritt. Für sie zählt nur: Möglichst schnell zum Wasserfall und zurück. Ausruhen? Aber warum denn! Die herrliche Natur ringsum bestaunen? Wozu, die kennen wir doch! Vom Weg abzweigen, um sich über sich schwankende Hängebrücke zu hangeln? Haben wir schon 1000 Mal gemacht!

Fast fünf Stunden dauert die Tour am Ende, Rigmor mag unser Getrödel zuletzt auch nicht mehr mitmachen. Ihr Friluftsliv-Gen treibt sie an, sie ist Norwegerin, sie kann einfach nicht anders. Aber das werden wir wohl niemals wirklich begreifen.

  • Infos: Innovation Norway / Norwegisches Fremdenverkehrsamt, PF 11 33 17, 20433 Hamburg,
  • Tel.: (01805) 00 15 48 (0,14 Euro/Min.), Fax: (040) 22 94 15 88, www.visitnorway.de, Canyoningtouren: www.lsadventure.no
  • Weitere Infos: www.visitjotunheimen.com/de/; www.sognefjord.no/de/; www.sognefjellet.com
  • Literatur: Norwegen, Dumont richtig reisen, 24,95 €; Norwegen – Das Fjordland, Dumont Reise-Taschenbuch, 14,95 €; Ebba D. Drolshagen, Gebrauchsanweisung für Norwegen, Piper , 14,95 €
  • Gerade erschien der Bildband »Norwegen« im DuMont Reiseverlag mit spektakulären Fotos aus ungewöhnlichen Perspektiven und vielen Infos über Land und Leute. Er hat 160 Seiten, rund 180 Farbfotos; ISBN 978-3-7701-8905-2, 24,95 €.


Weitere Fotos von dieser Tour finden Sie unter: Unterwegs in Norwegen

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