- Kommentare
- Flattersatz
So ein Tag, so wunderschön
Ich bin glücklich, glücklich, glücklich, nun schon 20 Jahre lang! Manchmal denke ich: Ich muss doch auch wieder mal ein bisschen unglücklich sein, z. B. wenn das Finanzamt zuschlägt oder mich die Gattin verlässt. Nein – ich bin stabil glücklich, unterbrochen höchstens von Bierdurst. Da geht es mir wie Thierse. »Ich habe immer noch ein Glücksgefühl im Bauch«, sagte der am Sonntag, wie an jedem 3. Oktober. Ich weiß nicht, wo genau das Glück bei ihm lokalisiert ist – mir sagt mein Hausarzt, ich solle nicht mit irgendwelchen Salben anfangen, sondern es mit Sitzbädern versuchen.
Glücklich sein musste ich auch im Unrechtsstaat, da bin ich trainiert. Schwerer fällt mir das Metaphysische. Denn neben dem »Glück« ist es das »Wunder«, das mein Leben seit zwei Jahrzehnten durchzieht. Das Wunder der Wiedervereinigung (und wem wir es zu verdanken haben, nämlich H. Kohl, dem Wunderknaben). »Es ist immer noch wie ein Wunder, wenn ich über die alte Grenze bei Marienborn fahre« – diesen Satz sollte inzwischen jeder draufhaben. Das Permanenz-Wunder der Einheit verlangt einem sonderbare Verhaltensweisen ab. Ich sage seit Jahren nicht mehr »Guten Morgen«, sondern rufe aus »Was für ein Wunder!«, und wenn im Lokal die Rechnung kommt: »Für dieses Wunder sollten wir dankbar sein!« (führte schon zu Lokalverbot).
Lebt eigentlich Freya Klier noch? Ja, am Sonntag lebte sie noch (oh Glück, oh Wunder!). Im Radio hörte ich sie davon schwärmen, dass die ostdeutschen Frauen am meisten von Freyas Revolution profitiert haben. Zum Beispiel ihre Mutter. In der Diktatur mussten die Frauen nämlich arbeiten und – pfui! – »ihren Mann stehen«. Das ist (oh Glück, oh Wunder!) vorbei. Sie waren außerdem schlauer als die Ost-Männer. Die haben oft versucht, das große Rad zu drehen und sind sofort auf die Schnauze gefallen. Ost-Frauen jedoch waren vorsichtiger, machten sich bescheiden mit einer Pachttoilette, einer Quarkkeulchen-Bäckerei oder einer Kranzbinderei am Südfriedhof selbstständig und sind erst jetzt in der Privatinsolvenz.
Was für starke Charaktere hat doch die Freiheit hervorgebracht! Alle trugen sie spätestens seit Freitagabend wieder Glück und Wunder auf der Zunge – das Sabinchen Bergmann-Pohl, der langjährige Hinterbankschläfer Markus Meckel, der Innenminister mit der Damenpistole im Unterhosengummi, Peter-Michael Diestel. Doch wo ist Claudia Nolte? Ist sie etwa nicht glücklich? Und warum schweigt, ganz gegen seine Art, der Eppel-Mann, der noch immer für große Lacherfolge steht? Einige sagten am Rande der Feierlichkeiten – wie sinngemäß Frau Merkel gegenüber »SuperIllu« (ein Blatt der Freiheit, oh Wunder, oh Glück!) –, sie wüssten nicht, was in den braven Platzeck gefahren sei, von »Anschluss« zu faseln. Entweder habe ihn die Stasi gefoltert oder er sei verrückt geworden, irre am dauerhaften Wunder.
Außerdem schwieg Lothar de Maizière. Er saß überall stumm, gekränkt und blass dabei und wurde nicht mal nach Gorbatschow und Thatcher als Wundertäter erwähnt, wo er bisher immer erwähnt wurde. Der Kanzler der Einheit hatte ihn am Vorabend gegenüber »Bild« endgültig aus der Manteltasche der Geschichte geworfen. Über diesen Mann lohne es nicht zu reden, der sei verbittert und nie in der Bundesrepublik angekommen. Wahrscheinlich gehört de Maizière zu jenen unanständigen Ostdeutschen, deren Biografien man nicht mit den »anständigen Biografien« verwechseln oder gar gleichstellen darf, wie Silberzunge Gauck in seiner Einheitspredigt forderte. An eine Behörde, die gute und schlechte Ost-Biografien auseinander hält und entsprechende Ausweise einführt, ist schon gedacht. Gauck wird sie aber nicht leiten, denn wenn Wulff weiter so stümpert ... wer weiß!
Wulff versuchte in seiner Festrede einen Befreiungsschlag. Nachdem die Integration der Ossis weitgehend misslungen ist, sollte man es jetzt mit der Integration der Muslime versuchen. Haben die Muslime in ihrer Kultur so etwas wie ein Ampelmännchen? Das könnte man doch jetzt einführen.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.