Minister mit Klarinette
Das Usedomer Musikfestival legt in diesem Herbst seinen Schwerpunkt auf Lettland
Die Letten gelten als musikalisches Volk; nicht umsonst spricht man von der »singenden Nation«. Viele Familien singen dort am Küchentisch, jedes Dörflein hat seinen eigenen Chor. Und das alle vier Jahre in Riga stattfindende Sängerfest dürfte weltweit das größte seiner Art sein.
Lettland ist in diesem Jahr Schwerpunkt des Usedomer Musikfestivals. Auf dem Programm stehen Konzerte mit dem Komponisten Peteris Vasks, den Geigern Baiba Skride und Gidon Kremer, der Organistin Iveta Apkalna oder dem 40-köpfigen Cantus-Mädchenchor. Derart umfassend wurde das lettische Musik-Leben hierzulande noch nie präsentiert.
Konzerte in Dorfkirchen
Bei diesem Festival lernt man auch das stille Hinterland der Insel kennen. Man fährt zu Konzerten in die winzigen, uralten Dorfkirchen auf dem Lieper Winkel, eine dünn besiedelte Halbinsel, die sich ins Achterwasser schiebt. Oder über holprige Allen an die stille Küste des Stettiner Haffs zum Schloss Stolpe. Einst Stammsitz der Grafen von Schwerin, wird es heute bewohnt von Fledermäusen und einer Katzenschar, die den Platz vor dem offenen Kamin bevorzugt.
Hier veranstaltet das Usedomer Musikfestival alljährlich einen Meisterkurs des litauischen Cellisten David Geringas. Zwölf jungen Cello-Studenten aus aller Welt bringt Geringas hier den rechten Bogenstrich und Feinheiten der Interpretation bei. Wenn sie alle gemeinsam spielen, brummt das alte Renaissance-Gemäuer geradezu. Das halbe Dorf ist an der Durchführung des Meisterkurses beteiligt. Die einen beherbergen die Musiker, die anderen kochen oder machen im Schloss sauber. Auch sonst gibt es eine enge Zusammenarbeit mit den Inselbewohnern: Die Meisterschüler spielen in den umliegenden Schulen; der Cantus-Chor singt beim Erntedank-Gottesdienst in der Ahlbecker Kirche. Und erstmals gibt es in Ahlbeck eine Festival-Lounge, wo nach den Konzerten bis in die frühen Morgenstunden warmes Essen serviert wird. Betrieben wird sie vom örtlichen Weinhändler.
Auch der 200. Geburtstag von Chopin hinterlässt beim diesjährigen Festival seine Spuren. International gefeierte Pianisten wie Boris Berezovsky, Ewa Kupiec oder der 25-jährige lettische Senkrechtstarter Vestards Šimkus widmen sich der Musik des Polen. Aber das Format des herkömmlichen Klavierabends wird auch verlassen. Zum Beispiel, wenn der norwegische Komponist Nils Henrik Asheim und »Gjertruds Zigeunerorchester« Chopins Mazurken mit Folklore, Jazz, Neuer und elektronischer Musik auftreten. Oder wenn Gergely Bogányi sein Rezital zu einem Lotteriespiel macht. Über zweihundert Chopin-Stücke hat der ungarische Pianist drauf. Jedes einzelne von ihnen kann er auf Zuruf spielen. Auswendig! Die Zuschauer entscheiden über den Ablauf per Los.
Auf Noten verzichtet schließlich auch das dänisch-lettische Carion-Bläserquintett, das aus seinen Konzerten eine Art Performance macht, indem es die Formen und Strukturen der Stücke durch Bewegungen und Choreografien veranschaulicht.
Die Folgen des Sparkurses
Das Singen und Musizieren ist in Lettland nicht nur ein Freizeitvergnügen, sondern dient auch dazu, die nationale Identität zu stabilisieren. Hinter den Kulissen, beim Gespräch mit den lettischen Künstlern, erfährt man, wie hart das kleine Land um seinen Status als Weltklasse-Musiknation kämpft. Die Finanzkrise 2008 hat den Staat zu drastischen Sparmaßnahmen veranlasst: Die Hälfte aller Schulen wurden geschlossen, 12 000 Beschäftigte aus dem Öffentlichen Dienst entlassen. Die Einsparungen treffen natürlich auch die Chöre, den schulischen Musikunterricht und die zahlreichen Kindermusikschulen.
Wenigstens hat Lettland einen Kulturminister vom Fach: Ints Dalderis, der neben seinem Amt einer Karriere als Profi-Klarinettist nachgeht. Sein Können demonstrierte er in Heringsdorf bei der Eröffnung einer Ausstellung zur Konzerttradition des lettischen Badeortes Jurmala. Die Ausstellung läuft, wie auch das Festival, noch bis zum 16. Oktober.
Programm im Internet unter: www.usedomer-musikfestival.de
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.