Kubas großes Experiment

Beschäftigungsreformen rufen Hoffnungen, aber auch Befürchtungen in der Bevölkerung hervor

  • Rainer Schultz, Havanna
  • Lesedauer: 6 Min.
Der von Staats- und Regierungschef Raúl Castro seit zwei Jahren verkündete Kurswechsel in der Beschäftigungspolitik wird in Kuba vielerorts diskutiert. Die Ankündigung des kubanischen Gewerkschaftsverbandes CTC, dass bis zum 1. April kommenden Jahres 500 000 Staatsangestellte ihren Arbeitsplatz verlieren, hat der Diskussionen verständlicherweise neue Nahrung gegeben.

Ana Maria, seit zehn Jahren Köchin in einem staatlichen Gästehaus, macht sich Sorgen: »Wie soll ich künftig meine laufenden Telefon- und Stromrechnungen bezahlen?« Der Hintergrund ihrer Besorgnis: Kubas großes Experiment mit dem Arbeitsmarkt ist angelaufen. Im August wurden in der Nationalversammlung verschiedene Arbeitsgesetze vorbereitet. Seit dem 1. Oktober sind die neuen Maßnahmen wirksam. Ihre sozialen Folgen, das genaue Ausmaß und die konkreten Abläufe kann niemand vorhersehen, sie stellen ein Novum in der sozialistischen Republik dar.

Die 43-Jährige Köchin gesteht, dass sie seit Bekanntwerden der Pläne pünktlicher zur Arbeit kommt und mehr Avocados schält als je zuvor. »Das Essen wird so gut schmecken, dass mich einfach niemand entlassen kann«, fügt sie mit wiedergewonnenem Selbstvertrauen hinzu.

»Gratisleistungen« auf dem Prüfstand

»Es ist das Zusammenspiel zweier Faktoren«, erklärt der Ökonom Omar Everleny gegenüber ND den Zeitpunkt der Reformen: »Zum einen das Ende des noch von Fidel Castro eingeleiteten ›Kampfes der Ideen‹« – das war ein mit der Rückkehr des von Verwandten in Miami festgehaltenen kubanischen Jungen Elián González einsetzender Re-Ideologisierungsprozess – »zum anderen die nicht mehr aufschiebbaren Folgen der weltweiten Wirtschaftskrise für Kuba selbst.« Präsident Raúl Castro formulierte es im April dieses Jahres so: »Wir können nicht mehr ausgeben, als wir einnehmen.«

Die Staatseinnahmen waren zwar seit 1994 – nach dem Zusammenbruch Anfang der 90er Jahre – wieder stetig gewachsen, doch reichte das nicht aus, um das umfassende Sozialsystem zu finanzieren. Als 2008 schließlich drei Hurrikane über die Insel fegten und Ernte, Infrastruktur und Häusern schwer zusetzten, wurden die Folgen der globalen Wirtschaftskrise deutlich sichtbar: Tourismuseinnahmen und Auslandsüberweisungen gingen zurück, Lebensmittel verteuerten sich und die Preise für Nickel – nach dem Tourismus inzwischen Kubas Hauptdevisenbringer – sanken um bis zu 70 Prozent. Eine Haushaltssanierung wurde unumgänglich. 2009 wurden daraufhin 40 Prozent weniger Waren importiert, viele Regale in den bescheidenen Geschäften der Insel sind deshalb heute noch dürftiger gefüllt als einst.

Obwohl zuletzt sogar der Mindestlohn noch einmal um 100 Peso erhöht wurde, begann die Regierung zugleich mit Einsparungen bei vielen Haushaltsposten. Erstmals wurden sogar zwei Säulen der Revolution ins Visier genommen. Originalton Raúl Castro: »Ohne eine solide und dynamische Wirtschaft (...) wird es unmöglich, den hohen Standard im Bildungs- und Gesundheitsbereich zu erhalten.« Die Lage ist also ernst. Viele »Gratisleistungen« seien nicht mehr angemessen, erklärte der 78-jährige General. Gemeint ist beispielsweise die legendäre »Libreta«, jenes Lebensmittelbezugsheft, das seit 1962 jeder Familie unabhängig von ihrem Einkommen ein Mindestmaß an Kalorienzufuhr sichert, der Krankenschwester ebenso wie dem Betreiber eines privaten Restaurants.

Die Reformen umfassen drei wesentliche Komponenten. Die erste ist der Abbau »überflüssiger« Arbeitskräfte und deren Umsetzung in vorrangige Bereiche, vor allem die Landwirtschaft und das Bauwesen, in die zunehmend investiert wird. Zum zweiten wird versucht, die Produktivität dadurch zu erhöhen, dass die Löhne wieder stärker an die Ergebnisse gekoppelt werden und sich die Gehälter wesentlich von der staatlichen Unterstützung für nicht arbeitende Personen unterscheiden. Raúl Castro dazu: »Die Menschen müssen wieder die Notwendigkeit spüren zu arbeiten.« Die dritte Komponente stellt die Ausweitung des Privatsektors dar.

Dieser letzte Teil ist besonders kontrovers. Einerseits wird er allseits begrüßt, andererseits weckt er Unsicherheiten. Ivonne, die als Friseurin arbeitete, bevor sie vor 15 Jahren begann, ein Zimmer ihrer Wohnung zu vermieten, fragt sich: »Woher sollen die Leute das Geld, die Einrichtung und die Erfahrung nehmen, plötzlich einen Friseursalon zu führen?« Die Regierung kündigte im Fernsehen an, Kleinkredite für die Neugründungen zur Verfügung zu stellen. Genaue Informationen gibt es bisher aber noch nicht.

Wenn du einen Klempner brauchst

»Viele der Änderungen sind eigentlich nur eine ›Legalisierung‹ von Dingen, die wir ohnehin schon kannten«, sagt Enrique, Dozent an der Informatikhochschule UCI, »mit dem Unterschied, dass der Staat jetzt durch neue Steuern Geld daran verdient.« Georgina, die für den Gewerkschaftsverband CTC in der Provinz Havanna den Reformprozess begleitet, erklärt die juristischen Vorteile dieser Legalisierung privater Dienstleistungen: »Wenn du jetzt einen Klempner brauchst, kannst du davon ausgehen, dass er registriert ist und dir eine Rechnung für die Reparatur schreibt. Wenn etwas nicht funktioniert, kannst du es reklamieren. Das war bisher nicht möglich.«

In der »revolutionären Offensive« waren 1968 sämtliche verbliebenen Privatunternehmen in Kuba – mit Ausnahme der kleinteiligen Landwirtschaft – verstaatlicht worden. Erst 1993 wurden unter strengen Auflagen wieder Lizenzen für bestimmte Bereiche vergeben, darunter Privatrestaurants und Zimmervermietung. Die Idee war, Reserven zu mobilisieren und Bedürfnisse zu befriedigen, denen der Staat nicht mehr nachkommen konnte. Die Zahl der »Cuentapropistas« – der auf eigene Rechnung Arbeitenden – ist seither jedoch wieder gesunken, von über 200 000 auf rund 140 000, darunter übrigens nur jede Fünfte eine Frau. Viele Lizenzen wurden nicht erneuert oder wegen Regelverstößen eingezogen. Raúl Castro kündigte nun an, die »irrationalen Regulierungen« zu beseitigen.

Insgesamt arbeiten noch immer 85 Prozent der etwa fünf Millionen wirtschaftlich aktiven Kubaner im staatlichen Sektor. Vor kurzem veröffentlichte die Parteizeitung »Granma« eine Liste mit den 178 Tätigkeiten, die ab sofort wieder legal selbstständig ausgeübt werden dürfen. Der »gewaltige Unterschied zu vorher« besteht laut Georgina darin, »dass die Leute im Privatsektor jetzt neben ihren Einkommensteuern Sozialabgaben zahlen müssen, damit sie später eine Rente beziehen können«. Neu ist aber auch, dass sowohl Räume als auch Arbeitskräfte gemietet werden können.

Auf den Leserbriefseiten der »Granma« wird seit Wochen über viele Aspekte der Reformen, darunter auch das notwendige Ausmaß diskutiert. Die Meinung des Lesers Curbelo Dacosta, im Sozialismus sollten nur die »grundlegenden Produktionsmittel« in Staatshänden bleiben, ist durchaus repräsentativ. Leser sorgen sich aber auch um den Auswahlprozess, der über den Verbleib am Arbeitsplatz entscheiden soll. Das zentrale Kriterium sei die persönliche Eignung, betonte Präsident Castro in seiner Parlamentsrede, damit Diskriminierungen verhindert werden.

Wer ist unverzichtbar, wer »überflüssig«?

Georgina erklärt, wie dieser Auswahlprozess vonstatten gehen soll: Eine Expertenkommission aus Betriebsleitung, Gewerkschaftern und drei für diesen Zweck gewählten Belegschaftsmitgliedern soll feststellen, wer unbedingt gebraucht wird. Alle anderen müssen entlassen werden. Dies betreffe vor allem »unproduktive Arbeit«: Wachpersonal, zusätzliche Bürokräfte und andere.

Trotz der weitreichenden Folgen – erstmals wird die Frist für die Zahlung von Arbeitslosengeld auf maximal sechs Monate festgelegt – trifft Georgina auf viel Verständnis, wenn sie auf Versammlungen die Notwendigkeit dieser Maßnahmen erläutert. »Meine Kollegen verstehen, dass es keine Alternative dazu gibt, und wir sind immer darum bemüht, den Betroffenen einen alternativen Platz in ihrem Erfahrungsbereich zu organisieren.«

Dennoch stehen, wie der Köchin Ana Maria, derzeit vielen Kubanern Hoffnung, Angst und Ungewissheit gleichsam ins Gesicht geschrieben.

Die nur mit Vornamen genannten Gesprächspartner baten um Anonymität, folglich wurden Pseudonyme gewählt.

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