Streitfrage: Hat die Europäische Union noch eine Existenzberechtigung?
Ein Militärbündnis auf falscher Grundlage
Von Tobias PflügerJa, natürlich hat die EU noch eine Existenzberechtigung. Die Europäische Union ist eine existierende zwischenstaatliche Institution. Zu klären ist allerdings die Haltung der Partei DIE LINKE zu ihr.
Die Kritik und Ablehnung des Lissabon-Vertrags ist schon länger Programmatik der Linkspartei. Im Europawahlprogramm von 2009 heißt es: »Unsere Ablehnung des Vertrages richtete und richtet sich weiterhin vor allem gegen die in diesem Vertragstext enthaltenen Aussagen zur Militarisierung der EU-Sicherheits- und Verteidigungspolitik, gegen die Grundausrichtung der EU an den Maßstäben neoliberaler Politik und gegen den Verzicht auf eine Sozialstaatsklausel, ohne die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auf tönernen Füßen stehen, gegen die angestrebte Art der verstärkten Zusammenarbeit der Polizei- und Sicherheitsdienste sowie gegen das weiter bestehende Demokratiedefizit in der EU und ihren Institutionen.«
Nun ist der Lissabon-Vertrag in Kraft. Wird deshalb die Kritik daran plötzlich falsch? Nein! Im Gegenteil, in der konkreten Politik der EU-Gremien seit Inkrafttreten des Vertrages zeigt sich, wie sehr die Kritik der LINKEN richtig war und ist. Kurz einige Beispiele:
Militärpolitisch hat die EU mit dem Lissabon-Vertrag neue Instrumente und Verfahren an der Hand. Zentral ist hier der neue »Europäische Auswärtige Dienst« (EAD), eine Behörde mit etwa 8000 Mitarbeitern, in der die Bereiche Auswärtiges, Militär- und Entwicklungspolitik zusammengefasst und dadurch einer militärischen Logik unterworfen werden. Die zuständigen Berichterstatter des Europäischen Parlamentes sehen darin einen »kohärenten auswärtigen Dienst, der die Basis für eine durchsetzungsfähige und handlungsfähige EU auf globaler Ebene bietet.«
Die neue »ständige strukturierte Zusammenarbeit« schafft ein militärisches Kerneuropa. Heinz-Josef Kruse, Hauptabteilungsleiter der Rheinmetall AG, meint dazu im »Behördenspiegel«, dies laufe auf die Entstehung eines europäischen »militärischen Kernlands« hinaus. Mit der neuen Beistandsklausel und der Solidaritätsklausel wird die EU zu einem Militärbündnis. »Durch die Hintertür werden Beistandsklauseln eingeführt, die sogar schärfer sind, als die der NATO«, so der Rüstungsmann Kruse.
Wirtschaftspolitisch hat der im Vertrag von Lissabon festgeschriebene Stabilitäts- und Wachstumspakt die Finanzkrise enorm verschärft. Besonders dumm ist das Verbot von Kapitalverkehrskontrollen im Lissabon-Vertrag. Auch die Kritik an der demokratischen Verfasstheit der EU nach dem Lissabon-Vertrag hat sich bestätigt. Eine demokratische, soziale und ökologische Politik lässt sich mit diesem Aufbau (EU-Rat und Kommission mit viel Macht, Europäisches Parlament nach wie vor sehr schwach) kaum durchsetzen.
Noch einmal sei das Europawahlprogramm zitiert: »Europa braucht ein Verfassungswerk, über das alle Bürgerinnen und Bürger in der Union am selben Tag abstimmen können. Das ist die unverzichtbare Voraussetzung für die demokratische Neubegründung der Europäischen Union.« Nach Ansicht der LINKEN bedarf es also eines neuen Grundlagenvertrages für die EU und damit einer Neugründung der Union an sich.
Einigen in der LINKEN geht die Konsequenz dieser programmatischen Punkte verloren: Die Institution Europäische Union kann somit auf der Basis des Lissabon-Vertrages kein positiver Bezugspunkt sein. Die Europäische Union nach dem Lissabon-Vertrag ist eine andere EU als zuvor. Sie ist mit dem Vertrag von Lissabon auch ein Militärbündnis geworden. Will die LINKE sich positiv auf ein Militärbündnis beziehen? Nun ist nicht mehr nur die konkrete Ausformung des Bündnisses EU ein Problem, sondern die Institution als solche. Dies gilt zumindest solange der Vertrag von Lissabon die Grundlage der EU ist.
Die politischen Zielforderungen sind damit klar: Für einen neuen Grundlagenvertrag der EU, für eine demokratische Neugründung der EU anstelle der heutigen Union auf Grundlage des Lissabon-Vertrags.
Die Linkspartei muss die zentralen Eckpfeiler des Lissabon-Vertrages angreifen, die die Grundlage z. B. für die falsche Wirtschafts- oder Außenpolitik der EU sind. Konkret heisst das, im Wirtschaftsbereich z. B. die Streichung des Verbots von Kapitalverkehrskontrollen, die Einführung einer sozialen Fortschrittsklausel und die Abschaffung des Stabilitäts- und Wachstumspakts sowie deren Ersetzung durch einen Pakt für außenwirtschaftliches Gleichgewicht zu fordern. Im Militärbereich sind die Streichung der Aufrüstungsverpflichtung, der Beistandsklausel und der Solidaritätsklausel, der primärrechtlichen Verankerung der Europäischen Rüstungsagentur und des militärisch durchsetzten EAD sowie die Ablehnung der Auslandseinsätze zentrale Forderungen.
Nicht hilfreich in dieser Diskussion ist es, mit Vokabeln wie pro- oder anti-europäisch zu hantieren. Darum geht es nämlich nicht. Es geht nicht um ein abstraktes europäisches Projekt, sondern um die EU von heute auf der Basis des Lissabon-Vertrages. Mit unfundierter Europaeuphorie, die auf die EU projiziert wird, wird man der realen Europäischen Union und ihrer Politik nicht gerecht.
Tobias Pflüger, Jahrgang 1965, ist Mitglied des erweiterten Parteivorstand der Linkspartei. Von 2004 bis 2009 war er Abgeordneter im Europaparlament, 1996 gründete er die Informationsstelle Militarisierung (IMI) in Tübingen mit.
Ausdruck herrschender Interessen
Von Gabi ZimmerWann verliert eine supranationale Organisation, die wie die EU als Verbund auf der Basis von Nationalstaaten existiert, ihre Berechtigung? Ebenso könnte die Frage lauten: Haben Nationalstaaten in der heutigen globalisierten Welt eine Existenzberechtigung? Die heutige EU ist in erster Linie ein Ergebnis dessen, dass ihre Mitglieder vor allem als Nationalstaaten innerhalb der Europäischen Union agieren.
Der Lissabonner Vertrag hat die EU weder besser noch gerechter gemacht. Richtig. Deshalb halten wir ihn als Linke ja nicht für geeignet, die EU ausreichend solidarisch, demokratisch, friedlich, sozial und ökologisch zu verankern. Der Vertrag ist aber Ausdruck der herrschenden Machtverhältnisse, der Interessen, die sich im Machtpoker durchgesetzt haben. Er wurde von den Regierungen der Mitgliedsstaaten verhandelt. Schaffen wir diese jetzt ab, weil sie sich weigerten, den sozialen Grundrechten im Vertrag die klare Priorität gegenüber den Freiheiten von Kapital, Dienstleistungen, Niederlassungen und der Freizügigkeit von Arbeitnehmern zu geben? Angesichts der unmenschlichen Aktionen der französischen Regierung gegen die Roma vielleicht eine gar nicht so üble Idee.
Linke Kritik an der EU ist unverzichtbar. Mit Recht verweisen dennoch nicht wenige EU-BürgerInnen heute darauf, dass sie der EU in Sachen Grundrechte, Antidiskriminierung und Gleichstellung vieles zu verdanken haben. Dabei ist auch klar, dass die Europäische Grundrechtecharta noch viele Lücken aufweist, nachgebessert werden muss, wenn es um die individuelle Einklagbarkeit von Grundrechten geht, ihre volle Gültigkeit für alle in der EU lebenden Menschen wie Polen und Briten, Angehörige ethnischer Minderheiten sowie Migrantinnen und Migranten. Dagegen könnte man gut und gern auf die unternehmerische Freiheit in Artikel 16 verzichten.
Die Europäische Union ist eine Tatsache. Die bereits erwähnte Ambivalenz macht die Herausforderung für die Linken deutlich: demokratische Spielräume verteidigen, nutzen und ausbauen. Wir brauchen eine EU, deren Potenziale für eine andere Welt, ein anderes Europa genutzt werden können. Noch ist sie wesentlich mitverantwortlich für die Zuspitzung der globalen Probleme. Sie ist die größte globale Entwicklungshelferin, obgleich ihre Wirtschaftspartnerschaften neokoloniale Politik pur bedeuten. Sie kann und muss sich viel engagierter um die Erreichung der Millennium-Entwicklungsziele mühen. Weder kommen Mitgliedstaaten wie Deutschland ihren eingegangenen Verpflichtungen nach, noch stellt »Global Europe«, die außenwirtschaftliche Agenda der Lissabon-Strategie, die notwendige Antwort auf die Teilung der Welt in arme und reiche, unterentwickelte und entwickelte Länder dar. Dagegen muss mobilisiert werden.
Der weltweit größte Binnenmarkt EU produziert etwa 20 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts (BIP). Seine 500 Millionen Einwohner sind daran sehr ungleich beteiligt. Diese Ungleichheit gilt es abzubauen, statt um Gewinn an Weltmarktanteilen zu konkurrieren. Der Ressourcenverbrauch, die Umweltverschmutzung und vor allem die militärischen Kapazitäten sind drastisch zu reduzieren. Dieses Potenzial, über das die EU verfügt, ist im Interesse ihrer Bürgerinnen und Bürger und der Weltbevölkerung einzusetzen!
Als es jetzt während der globalen Krisen darauf ankam, lernfähig zu sein, sich zu korrigieren, solidarisch zu handeln, die Macht der Spekulanten kategorisch zu beschneiden, haben die Mitgliedstaaten und die Institutionen der EU versagt. Der Lissabonner Vertrag hat mit seinem Mantra, Kapitalflüsse zwischen den Mitgliedsstaaten sowie mit Drittländern nicht zu beschränken oder zu kontrollieren, dazu beigetragen. Der Europäischen Zentralbank steht in der Eurozone keine wirtschaftspolitisch handlungsfähige Instanz gegenüber. Eine »Europäische Wirtschaftsregierung«, über die diskutiert wird, müsste von Anfang an mit der Entwicklung einer demokratisch koordinierten Wirtschaftspolitik für die gesamte EU einhergehen. Es kommt hinzu: Der im Zuge der globalen Krisen praktizierte Rückzug mancher Regierungen auf die nationale Ebene fördert das Erstarken nationalistischer Stimmungen und Parteien in der EU.
Ein Auseinanderbrechen der EU und eine Re-Nationalisierung von Politiken wäre die unsinnigste Antwort auf die weltweite Krise, von der auch EU und Mitgliedstaaten betroffen sind. Die sozialen Auswirkungen in den Mitgliedstaaten wären katastrophal.
Angesichts der realen politischen Kräfteverhältnisse könnte auch die politische Linke das kaum verhindern. Zum anderen wird ja gerade eine EU dringlicher denn je gebraucht, die Probleme solidarisch und gerecht lösen hilft.
In der Euro-Krise ist deutlich geworden, wie weit die Legitimation und Kontrolle der europäischen Politikebenen verloren gegangen ist. Das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die EU ist weiter drastisch geschwunden. Gerade deshalb muss die Frage der umfassenden Demokratisierung der EU, des Ausbaus der demokratischen, sozialen und politischen Grundrechte ganz oben auf der Agenda aller stehen, für die der Weg zurück nicht zukunftsweisend ist.
Dazu beizutragen sind die Linken sehr gefordert.
Gabi Zimmer, 1955 in Berlin geboren, ist seit 2004 Abgeordnete der Vereinte Europäische Linke/Nordische Grüne Linke im Europäischen Parlament, zu der auch die Delegation der LINKEN gehört.
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