Der Finanzkapitaltheoretiker
Vor 100 Jahren erschien das Standardwerk von Rudolf Hilferding
Als das wegweisende Buch »Das Finanzkapital« 1910 erschien, war die Aufregung groß. Karl Kautsky würdigte das Werk als »vierten Band des Kapitals«. Für Lenin war das Buch eine »höchst wertvolle theoretische Studie über die jüngste Entwicklung des Kapitalismus« und Trotzki redete den Verfasser des Werkes in einem Brief mit »lieber Finanzkapitaltheoretiker« an. Der Autor war der aus Österreich stammende Rudolf Hilferding (1877-1941), seinerzeit Mitarbeiter der sozialistischen Theoriezeitung »Neue Zeit« und Mitherausgeber der Marx-Studien. Später war er Reichsfinanzminister in der Weimarer Republik; er kam in Paris in Gestapo-Haft ums Leben.
Weil »Das Finanzkapital« auch nach 100 Jahren seines Erscheinens noch aktuell ist, organisierte der Verein Helle Panke im Rahmen ihrer Reihe »Vielfalt sozialistischen Denkens« am Donnerstagabend in Berlin dazu eine Veranstaltung. »Hilferding hat in seiner Zeit ideenreich die Vorläufer des heutigen Finanzmarktkapitalismus beschrieben«, erklärte Michael R. Krätke, Professor für Politische Ökonomie an der Lancaster University, die Aktualität des Werks. »Genauso wie man heute noch an Karl Marx anknüpfen kann als Analytiker der Grundlagen des modernen Kapitalismus, kann man auch Hilferdings Arbeiten im Blick auf gegenwärtige Verhältnisse anwenden.«
Das »Finanzkapital« ist heute noch lesenswert, weil es die Rolle der Banken in der Gesellschaft theoretisch erfasst. Dabei beschreibt Hilferding vor allem das, was heute »Corporate Control« genannt wird: die Verzahnung von Finanzierung und Kontrolle von Unternehmen. Schließlich herrscht damals wie heute eine Periode der Dominanz der Hochfinanz, in der wenige Finanzmarktakteure das Sagen über die gesamte Wirtschaft haben.
Auch die gegenwärtige Finanzmarktkrise macht das Buch immer noch aktuell. Hilferding war einer der Ersten, die Geld und Kredit als Faktoren in seine Krisentheorie aufnahm. Er analysierte, wie der Bankenkredit zunächst Ungleichgewichte auf dem Markt verhüllt, dann aber verstärkt und so zu einer Verschärfung des Krisenzyklus beiträgt. Als empirische Grundlage seiner Arbeit diente Hilferding die Weltfinanzkrise von 1907.
Diese Konzentration auf die geld- und kredittheoretischen Aspekte der Krise kann auch als eine Schwäche von Hilferding angesehen werden, weil er keine Analyse der kapitalistischen Produktion lieferte. Doch zeigt es auch eine neue Form der Ausbeutung und Enteignung an: die Umverteilung des Reichtums durch Kredit – einen Prozess, den gegenwärtig viele US-Amerikaner erleben müssen, die infolge der Finanzkrise die Hypotheken auf ihre Häuser nicht mehr bezahlen können und jetzt obdachlos geworden sind.
Es darf bei der Lektüre von »Das Finanzkapital« nicht vergessen werden, dass das Buch ein Jahrhundert alt ist und sich die Strukturen der Wirtschaft auch gewandelt haben. »Was man heute Finanzkapital nennen müsste, ist nicht mehr hier Banken und dort Industrie, sondern es sind die großen Finanzmarktakteure wie Rentenfonds, Versicherungen und Banken, die sehr oft zu einem großen Unternehmen zusammen geschmolzen werden«, stellte Krätke heraus.
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