- Politik
- Fokus: Anti-Castor-Proteste
Der »Höllenzug« aus Frankreich
Im Nachbarland nur marginale Proteste
Um 14.20 Uhr soll der »Höllenzug«, wie ihn die französischen Atomgegner nennen, heute in Valognes Richtung Gorleben aufbrechen. In den Städten Caën, Amiens, Arras, Metz und Straßburg warten dann die ersten französischen Atomgegner, um auf den Bahnhöfen friedlich zu demonstrieren: Man wolle Informationen verteilen, »Lärm machen« und »Reisende auf die Gefahr aufmerksam machen«, heißt es von Seiten des Antiatom-Netzwerks »Sortir du nucléaire«. Reichlich milde klingt das, denkt man an den angekündigten »Rekordprotest« in Deutschland.
Doch ebenso wenig wie in Frankreich gegen die Verlängerung der Laufzeiten für Atommeiler protestiert wird, hört man dort von Atommülltransporten oder gar einem Endlagerproblem. Dementsprechend schwer haben es die französischen Atomgegner: »Wir verstehen uns in erster Linie als ›Whistleblower‹ – und wollen die Öffentlichkeit auf das Atomproblem aufmerksam machen«, erklärt Kampagnenleiterin Charlotte Mijeon von »Sortir du nucléaire«.
Vor sechs Jahren kam ein französischer Aktivist beim Castor-Protest ums Leben. Trotzdem rechnet Mijeon in den nächsten Tagen mit vereinzelten »spektakulären Aktionen« von unabhängigen Gruppen, auch wenn sie hofft, dass gerade ungeübte Atomgegner »vorsichtig« sind. Einige französische Protestler wollen sich auf den Weg ins Wendland machen: Zwar arbeite man schon jetzt eng mit der Bürgerinitiative (BI) Lüchow-Dannenberg zusammen – aber man könne vor Ort noch viel für die Mobilisierung in Frankreich lernen.
Dass in Deutschland ein derartiges Aufsehen gemacht wird, entlockt dem einen oder anderen Franzosen höchstens ein müdes »Ja, das ist eben so deutsche Tradition«. Im eigenen Land können sich aber nur sehr wenige vorstellen, gegen die Atomlobby zu demonstrieren, geschweige denn sich an Gleise zu ketten. Beispielsweise ist der 2004 vom Castor überrollte französische Aktivist Sebastien Briard in Deutschland mittlerweile ein Mythos. In seinem Namen verübt ein gleichnamiges Kommando deutscher Atomgegner nun sogar »Vergeltungsschläge« – wie unlängst gegen die Berliner S-Bahn.
Dabei ist das Land weit mehr betroffen als Deutschland – und das nicht nur aufgrund seiner 58 Atomkraftwerke. In der Wiederaufarbeitungsanlage in La Hague wird Atommüll aus ganz Europa behandelt. Abgebrannte Brennstäbe werden hier teilweise recycelt, das heißt, wiederverwertbare Reststoffe von Uran oder Plutonium werden abgetrennt, und der Rest für die Endlagerung wird verpackt. La Hague ist zudem wie auch Gorleben ein Atommülllager für französische Atomkraftbetreiber, das keinen Endlagerstatus genießt – so wie alle Atommülllager in der EU.
Schon seit Langem gibt es umfassende Beweise dafür, dass die Region um die Wiederverarbeitungsanlage mit Strahlung kontaminiert ist. Schon Ende der 90er Jahre nahm Greenpeace im Meer Boden- und Wasserproben an entsprechenden Ableitungsrohren der Anlage und stellte dabei fest, dass radioaktive Flüssigabfälle direkt ins Meer geleitet werden. Und das legal, da nur das Entsorgen von Atommüllfässern verboten ist. Auch bei der Abluft der Anlage wurde eine immense Überschreitung der Grenzwerte nachgewiesen. Nicht erstaunlich ist also, dass französische Wissenschaftler schon vor über zehn Jahren eine erhöhte Blutkrebsrate bei Kindern und Jugendlichen in der Umgebung nachwiesen.
Doch die französischen Aktivisten stehen trotz all der Fakten auf verlorenem Posten mit ihrer Forderung nach einem Atomausstieg. Sie bekommen nicht einmal die Informationen, die ihnen nach dem Transparenzgesetz eigentlich zustehen: So versuchten sie wochenlang, vom Betreiber in La Hague (Areva) und der staatlichen Sicherheitsbehörde ASN (l’Autorité de Sûreté Nucléaire) zu erfahren, wie viel Radioaktivität die elf Castorwaggons eigentlich enthalten – jedoch ohne Erfolg. Erst über einen niedersächsischen Grünen-Abgeordneten habe man die genauen Werte erfahren. Nun wissen Greenpeace und »Sortir du nucléaire« auch, warum man sich taub stellte: Der zwölfte Castor ist der »radioaktivste Atommülltransport der Welt«. Mit 3000 Becquerel enthält der Zug eine zehn Mal höhere Strahlung als bei dem Unfall 1986 in Tschernobyl frei wurden. »Das zeigt alles, wie wenig demokratisch unser Land ist«, erklärt Charlotte Mijeon.
Doch solange die französische Öffentlichkeit nicht die bestehenden Strukturen hinterfragt, wird sich auch nichts bewegen. Französische Atomgegner leisten deshalb immer noch harte Pionierarbeit, wohingegen der Antiatomprotest in Deutschland mittlerweile fast im sogenannten Mainstream angekommen ist.
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