Wie ein Fisch im Wasser
Peter Grohmann ist 73 – und ein Kopf der Stuttgarter Proteste
Einen Fauxpas sollte nicht begehen, wer mit Peter Grohmann über die Bewegung gegen den geplanten Stuttgarter Tiefbahnhof sprechen will. Nämlich das Wörtchen »ausgerechnet« im Zusammenhang mit »Stuttgart« verwenden.
Grohmann lächelt dann weiter, fühlt sich aber doch ein bisschen gekränkt in seiner Schwabenehre. Und holt zu einem historischen Rundumschlag aus: Über die lange Arbeiterbewegungstradition in der Industriemetropole spricht er dann, über die 20er-Jahre, als Stuttgart die Stadt der Parteioppositionellen war und USPD wie später KPO erstarkten, über die kritischen Gewerkschafter beim Daimler, die bis heute auch der eigenen Organisation gern mal in die Parade fahren, über die Friedensbewegung der 80er-Jahre, die K-Gruppen, die Trotzkisten, die Atomwaffenblockade in Mutlangen, die Menschenkette auf der Alb – alles auch von Stuttgart aus Stuttgart organisiert. Und selten ganz ohne den zierlichen gestikulierenden Mann an diesem Kaffeetisch: ohne Peter Grohmann.
73 ist er gerade geworden, aber das merkt man ihm nicht an. Es hält ihn kaum an seinem Stehtischchen im Foyer des Stuttgarter Theaterhauses, das er vor 25 Jahren gegründet hat. Seit einiger Zeit schon ist Grohmann, seit den Sechzigerjahren als Kabarrettist, Kultur-Politiker, Gründer und Verbindungsstifter im Ländle bekannt, eigentlich im Ruhestand. Und doch fühlt er sich gefordert wie selten in diesen wilden Stuttgarter Tagen. »Eigentlich will ich ja langsam Platz machen für die Jüngeren«, sagt er. Aber die Sache mit dem Bahnhof ist zu spannend.
Vor inzwischen über einem Jahr hatten sich die »Anstifter«, Grohmanns politischer Verein, entschlossen, noch einmal im Bunde mit den üblichen Verdächtigen in dem Bahnhofsthema aktiv zu werden – obwohl sich dieses bis dato allenfalls als mäßig mobilisierend erwiesen hatte. Doch wuchsen bald nicht nur die »Montagsdemos« mit ungeahnter Wucht. Die Sache mit dem Bahnhof, die zunächst nur etliche Ältere wirklich erregt hatte, schob sich schnell nach oben auf die Agenda. Zuerst in der Stadt, dann im Land – und seit die Presse beschlossen hat, dass letztlich sogar das Schicksal der Kanzlerin mit diesem Projekt verknüpft sei, auch in der Bundespolitik.
Woher diese Urgewalt? Grohmann überlegt eine Weile. Dann sagt er, es seien einfach »zu viele Dinge zusammengekommen in den letzten zwei, drei Jahren«. Klar, dass das sehr teuer wird, das habe man schon lange gewusst und sich über das so selbstherrliche Auftreten der S-21-Macher geärgert.
Dass nun derart viele Leute auf die Barrikaden gingen, lasse sich allein dadurch aber nicht erklären. Für ihn selbst, sagt Grohmann, steht der alte Bahnhof mit seinem daimlersterngekrönten Turm für ein altes, bei allem Reichtum und trotz der konservativen Dauerherrschaft doch liberales und lebenslustiges Stuttgart. Eine Stadt, in der nie so heiß gegessen worden sei, wie vielleicht gekocht wurde. Wo es am Ende noch für jedes Berufsverbotsopfer eine informelle Lösung gegeben habe und wo man sich, bei aller Gegnerschaft, persönlich nicht zu nahe trat.
»Uunglaublich, so ebbes ...!«
Je länger er nachdenkt, desto grundsätzlicher wird Grohmann. Schon die Tatsache, dass nicht nur in Preußen oder sonstwo, sondern »hier bei uns in Baden-Württemberg« die Landesbank eine Milliarde verzockt hatte und hinterher niemand Buße tat, sondern alle drucksten und tricksten, habe die Leute tief getroffen, sagt Grohmann. Und parodiert das kollektive Schwabenbewusstsein: »Uunglaublich, so ebbes!« Jetzt aber übertrage sich die Verunsicherung auf ein Bauprojekt, das zuletzt bei jedem Hinsehen teurer wurde: »Des kannscht du doch net mache, sagen die sich, die finden das unseriös, die ärgern sich schwarz darüber, dass wieder nicht alles auf den Tisch kommt.«
Dann spielt er noch mehr solche Hintergründe vor. Der Pietismus, der tiefe Wurzeln hat im Schwäbischen, steht demnach im Widerspruch zu dem Protzigen an den Neubauplänen und zu ihrer Maßlosigkeit. Seit den Neunzigern wird nicht mehr investiert in den bestehenden Bahnhof – ein Unding in Schwaben, wo man »schön aufpasst auf sei Sach'«. Und die inzwischen alte, selbstbewusste, grüne Tradition im Südwesten sei schon immer auch ein bisschen wertkonservativ gewesen, da kommt das eine jetzt eben zum anderen.
Peter Grohmann kann sehr witzig und bissig sein, wenn er so erzählt, halb Analyse, halb Sketch. Aber irgendwie wirkt er auch gerührt. Das erste Mal seit langem fühlt er, wie die Schwabenseele, sonst eher eine Reibungsfläche, diesmal hinter ihm steht. Dass sich all das Ordnungsdenken, an dem man im Südwesten gut und gerne verzweifeln kann, nun auf einmal auf seine Waagschale drückt. Obwohl das nun seit vielen Wochen so geht, schüttelt Grohmann noch immer den Kopf: »Ich hätte das nie gedacht.«
»... Mutti hat's Ahmbrood fertsch«
Wir dürfen uns Peter Grohmann im Augenblick also recht glücklich vorstellen. In Verbindung zu stehen mit den Menschen, zu wissen, wie sie ticken, schon bevor der Zeiger vorrückt, das ist Aufgabe und höchster Lohn für Leute, deren Geschäft im Spiegelvorhalten besteht. Nicht nur der Revolutionär, auch der Ironiker, Netzwerker und Organisator muss schwimmen wie ein Fisch im Wasser.
Das hat Grohmann in den 90er-Jahren lernen müssen, als er – 1937 in einer Polizeisiedlung an der Dresdner Mommsenstraße geboren – aus alter Verbundenheit und voll neuer Euphorie an die Elbe zurückkehrte. Zehn Jahre lang hat er damals versucht, Fuß zu fassen in der Sachsen-Hauptstadt – dann gab er auf. »Kapital wächst zusammen, alles andere bleibt sich mittlerweile eher fremder als gestern« schrieb er 2001 im »Freitag«, in einem Abschiedsbrief an die Ossis: »Während die West-Gäste meist gegen 10 Uhr kamen, saßen die tapferen (und wenigen) Dresdner meist schon um neun mit Bleistift und Papier parat, mussten sie doch um 18 Uhr gehen: ›Die Mutti hat's Ahmdbroood fertsch.‹«
Vieles hat Grohmann in Dresden versucht: Eine große, offene Wohnung gepflegt, einen Veranstaltungsort eröffnet, eine Stadtschreiberstelle eingerichtet, ein »Stattbuch Dresden« herausgegeben, ein Handbuch der sächsischen Kleinkünstler zusammengetragen, Recherchen zur Geschichte der Juden und der Zwangsarbeiter in Dresden – außer den Auftritten mit seinem Programm »Vom Stasi zum Aldi« funktionierte gar nichts. Noch zehn Jahre später ist Grohmann ratlos: »Ich habe die Leute nicht verstanden«, sagt er. Selbst wenn er ein Essen gab, um ein zwangloses Kennenlernen zu ermöglichen, habe das nicht geklappt. »Die haben gedacht, der Wessi will sich doch bloß Freunde kaufen.«
Die Halböffentlichkeit des politischen »Du«, der Club-Gedanke, die Verbindung linker Politik mit dem Stil der Bohème – was in Dresden nicht funktionieren wollte, war in Stuttgart die Basis des Grohmannschen Wirkens. Nicht nur das Theaterhaus hat er hier gegründet, das schon ein Vierteljahrhundert besteht und vor ein paar Jahren auf die Anhöhe des Pragsattels gezogen ist, sondern zuvor auch den längst legendären Stuttgarter »Club Voltaire«. Grohmann ist im Hintergrund geblieben, Karriere haben andere gemacht. Jener junge Revoluzzer etwa, der damals, als die vollgequarzten Wände gestrichen werden sollten, den Kopf schüttelte – und cool eine Kippe in die Farbe schnippte: Joschka Fischer.
Wo der schon auftaucht, da ist ein Etikett nicht fern: »Alt-68er«. Peter Grohmann hört das gar nicht gern. Er sieht sich als »58er«: Wiederbewaffnung, Atomtod, Godesberger Programm – das war seine Politisierung. Schon 1962 flog er aus der SPD, weil er für die »Deutsche Friedensunion« geworben hatte – eine Plattform für viele aus der verbotenen West-KP. Obwohl ihn die Genossen später wiederhaben wollten, ist Grohmann stets parteifern geblieben: »So reden wenigstens alle mit mir.«
Oder er mit ihnen. In diesen Monaten kann man Grohmann nicht nur als Bahnhofsgegner erleben oder als Herausgeber eines Buches über Stuttgart in der Nazizeit, dessen Erscheinen die Stadt gerade sabotiert. Einmal im Monat liest er aus seiner entstehenden Autobiographie vor. Weit ist er bisher nicht gekommen. Es geht noch immer um seine Familie – in den Kämpfen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Nach der Veranstaltung fragt Grohmann die Gäste, ob das eigentlich interessant sei. Aber klar, sagt einer, jemand müsse den jungen Leuten die Sache mit der Arbeiterbewegung doch mal erzählen – »aber am besten als Hörbuch«.
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