Die Mitwisser und Mittäter – und die Anderen

Hitlers willige Diplomaten – Anmerkungen zur Studie über die Verbrechen des Auswärtigen Amtes in der Nazi-Zeit

Der US-amerikanische Historiker Christopher Browning bemerkte, was in Deutschland offenbar als Sensation empfunden werde, wirke auf ausländische Forscher wie ein Durchkauen von allseits Bekanntem. Sein vor über 30 Jahren erschienenes Buch »The final solution and the German Foreign Office« ist erst jetzt auf dem deutschen Buchmarkt: »Die ›Endlösung‹ und das Auswärtige Amt. Das Referat D III in der Abteilung Deutschland 1940-1943« (Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2010). Warum erst jetzt?

Man wusste in Deutschland Ost und West von der aktiven Mitwirkung der deutschen Diplomaten an den Verbrechen des faschistischen Regimes. Wer es nicht wahrhaben wollte, hatte seine Gründe. Und wenn es noch eines Beweises dafür bedürfte, dass man im ostdeutschen Staat entgegen einer weit verbreiteten Mär durchaus ernsthaft und aufrichtig um die Aufdeckung und Aufklärung brauner Vergangenheit, vor allem der Komplizenschaft der Eliten, bemüht war (wenn auch mit quellenbedingten und ideologisch diktierten Lücken), dem sei die Lektüre der »Braunbücher«, diverser historiografischer Monografien und Dokumentenbände über Europa unterm Hakenkreuz empfohlen.

Und dennoch, diese verdienstvolle Studie, die derzeit für erregte Debatten sorgt und manchen wie eine Offenbarung erscheint, ist etwas anders. Nunmehr ist nach Jahrzehnten unbewältigter Vergangenheit erstmals die Schmach und Schande des Auswärtigen Amtes offiziell. Ein ministerielles Auftragswerk, das sich nicht in ministerieller Devotheit ergibt. Dafür stehen allein die Namen der Herausgeber, über jeden Zweifel der Vereinnahmung erhaben. Seriöse Wissenschaftler, die sich nicht zu fein sind, auf Vorarbeiten zu verweisen, darunter jüngster Publikationen aus der Feder jüngerer deutscher Historiker.

Schwarz auf weiß ist en detail exakt nachzulesen, wie deutsche Diplomaten sich an der Ausgrenzung und Ausbürgerung nicht nur von Menschen jüdischer Herkunft beteiligten (ungeachtet einzelner Bedenken, dass dies dem Ansehen Deutschlands im Ausland schaden könnte), wie sie eifrig an der Revision des Versailler Vertrages mitgewirkt haben (deutsch-britisches Flottenabkommen, Heimholung von Rhein- und Saarland), sich auftragsgemäß um die Auslandsdeutschen bemühten, damit diese das Reich »kraftvoll und positiv im nationalsozialistischen Sinne« vertreten (und als Fünfte Kollone fungieren). Wie sie die Kriegsvorbereitungen willig unterstützten und die Besatzungsbehörden in den eroberten und ausgeplünderten Gebieten von Brest-West bis Brest-Ost mit ihrer Kunde von Land und Leuten berieten. Wie sie Emigranten bespitzelten, an der Organisation der Zwangsarbeit und den Kunstraubzügen der Nazis beteiligt waren. Der deutschen Diplomaten blutige Verantwortung beschränkt sich nicht auf den millionenfachen Mord an den europäischen Juden.

Seit jeher konnte kein Welteroberer ohne das Mittun willfähriger Gesandter in aller Welt seine Gier befriedigen. Das war nicht anders in den 30er und 40er Jahren des vergangenen Säkulums. Und doch war es wiederum anders – wegen der ungeheuerlichen Dimension, der Einzigartigkeit der Verbrechen der Nazidiktatur. »Das Amt repräsentierte, dachte und handelte im Namen des Regimes«, liest man in der Studie. »Der diplomatische Apparat, den die Nationalsozialisten 1933 übernahmen, war routiniert und erfahren, die deutsche Diplomatie war hoch professionalisiert. Auch deshalb wurde sie zu einer wichtigen Stütze der nationalsozialistischen Herrschaft.« Die gebildeten Herren im feinen Zwirn wussten, was von ihnen erwartet wurde. Sie wussten, was sie taten.

Mit Unterstaatssekretär Martin Luther war das Amt im Januar 1942 auf der Wannsee-Konferenz vertreten, auf der die Technokraten der »Endlösung« den reibungslosen Ablauf der Deportation der Juden und deren »Vernichtung« besprachen. Das einzig erhaltene Exemplar des Protokolls fand sich nach 1945 in den Akten des Auswärtigen Amtes. Bereits im Oktober 1941 entsandte das AA seinen »Judenreferenten« Franz Rademacher nach Belgrad, um mit Vertretern anderer deutscher Behörden, darunter dem Reichssicherheitshauptamt, die »Behandlung« der serbischen Juden zu koordinieren. Eine Reisekostenabrechnung hält sein verbrecherisches Werk fest. »Jeder Buchhalter in der Reisekostenstelle des AA konnte es lesen: Reisezweck war die ›Liquidation von Juden in Belgrad‹«, betonen die Autoren der Studie.

Eine Mitarbeiterin der Zentralen Rechtsschutzstelle des AA war zur Zeit des Eichmann-Prozesses in Israel, wie auf Seite 614 der Studie zu erfahren ist, bei Aktendurchsicht auf ein Dokument gestoßen, in dem von einer Verschickung der Juden in Vernichtungslager die Rede war. Die Archivleitung stellte später »richtig«, dass es sich »um einen Propagandaartikel aus dem Neuen Deutschland handelt, doch da war die Kollegin wegen eines Nervenzusammenbruchs bereits beurlaubt worden«.

Hat man das fast 900 Seiten umfassende Buch studiert, möchte man ausrufen: Quod erat demonstrandum. Es war nicht nur Propaganda, was aus dem Osten verlautbart wurde. Auch über die unheilvolle personelle Kontinuität nach 1945 in Deutschland-West: von A wie Auswärtiges Amt über J wie Justiz bis hin zu W wie Wehrmacht. Ebenso über Bonner Abwehrreflexe, über Leugnung oder Rechtfertigungsversuche.

Victor Grossman, ein in der DDR lebender US-Bürger, erinnert sich gegenüber ND: »Zusammen mit meinem damaligen Chef John Peet haben wir 1962 in ›Democratic German Report‹ eine Karte veröffentlicht. Sie zeigte die Welt mit einem Hakenkreuz auf jedem Land, wo ein Botschafter der BRD NSDAP-Mitglied gewesen war. Es waren fast 60 Hakenkreuze auf allen Kontinenten, von Chile bis Japan. Auf den folgenden Seiten wurden Kurzbiografien geboten und Zitate. So von Bonns damaligem Botschafter in der Schweiz, der sich gebrüstet hatte, bei der ›Ent-jüdifizierung‹ der Niederlande geholfen zu haben. Die Karte erschien in mehr als 20 Ländern, von Oslo bis Rom, von Tel Aviv bis Sydney, nur nicht in Bonn.« Schließlich habe der »Spiegel« sie erwähnt, worauf »ein wüster Angriff« von »Christ« und »Welt« wegen »Weitergabe kommunistischer Propaganda« erfolgt sei.

Kalter Krieg und Systemausein-andersetzung können indes (wie teils in der Studie durchschimmert) nicht für die ausgebliebene Aufarbeitung und Ahndung der Untaten brauner Diplomaten verantwortlich gemacht werden. Erst recht nicht für den schuftigen Umgang mit den Anderen und deren Angehörigen. Ja, es gab sie auch im Auswärtigen Amt: Menschen mit Anstand und Mut. Sogar mit einem »von« im Namen. Rudolf von Scheliha, Sohn eines Rittergutbesitzer, studierter Jurist, NSDAP-MItglied und Leiter des Referats XI im AA, zuständig für die »Bekämpfung der feindlichen Gräuelpropaganda«, bemühte sich um Ausreisemöglichkeiten für Verfolgte, schmuggelte Predigten des Bischofs von Galen gegen das Euthanasie-Mordprogramm in die Schweiz und unterstützte die Verbreitung von Berichten über Verbrechen im besetzten Polen. Er suchte Kontakt zu verschiedenen Oppositionellen, darunter dem Kommunisten Rudolf Herrnstadt, und war beteiligt an den Umsturzplänen eines Henning von Tresckow. Von der Gestapo der »Roten Kapelle« zugeordnet, wurde er am 14. Dezember 1942 zum Tode verurteilt und am 22. Dezember in Plötzensee ermordet. Am gleichen Tag starb dort unter dem Fallbeil seine Mitstreiterin Ilse Stöbe, Tochter eines Tischlers, tätig im Artikeldienst der Informationsabteilung des AA. Ihre unter dem Decknamen »Anita« im Frühjahr 1941 nach Moskau übermittelten Warnungen vor dem deutschen Überfall waren von Stalin tragischerweise ignoriert worden. Wie die entsprechenden Informationen von Gerhard Kegel, 1941 von Hitler dero selbst zum Legationssekretär im Auswärtigen Amt befördert; er war nach 1945 Chefredakteur der »Berliner Zeitung«, dann des »Neuen Deutschland« und später DDR-Botschafter bei der UNO in Genf. Einige weitere Namen wären zu nennen.

Der Antrag der Witwe Marie Louise von Scheliha nach dem Krieg auf Wiedergutmachung wurde von Bonn abgewiesen; auf die Rehabilitierung musste sie bis 1995 warten. 1960 wurde Schelihas Name auf einer Liste zu ehrender Widerständler des Auswärtigen Amtes durchgestrichen, mit dem Vermerk: »Bezahlter Verräter!« Ulrich Sahm hat ihm 1990 mit der Biografie »Ein deutscher Diplomat gegen Hitler« ein Denkmal gesetzt. Auch an Fritz Kolbe erinnert inzwischen ein Buch, von Lucas Delattre. Seit 1925 im diplomatischen Dienst hat Kolbe ab 1943 geheime Dokumente und Geheimcodes dem US-Geheimdienst zugeleitet, über die Deportationen der ungarischen Juden und die Produktion der V-Waffen informiert. Dem »Verräter« wurde der Wiedereintritt ins Amt in Nachkriegsdeutschland verweigert. Er starb 1971 in Bern, erst 2004 wurde er offiziell gewürdigt.

Die brennende Frage bleibt: Warum haben die Weizsäckers oder Rademachers, Nüßleins und Krapfs nicht wie jene Gewissen und Zivilcourage bewiesen? Dies war nicht der Generation oder sozialer Herkunft geschuldet. Die kleine Minderheit der Widerständler war ebenso heterogen wie die große Mehrheit der Mittäter. Es ist also wohl doch eine Sache des Charakters, der Persönlichkeit. Mensch sein. Mensch bleiben.

»Die Geschichte, die dieses Buch zum Gegenstand hat, ist unabgeschlossen«, heißt es in der Studie. Fürwahr.

Eckart Conze/Norbert Frei/Peter Hayes/Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergangenheit. Karl Blessing. 879 S., geb., 34,95 €.

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