Walten und Schalten in der Welt
»Die Wahrheit zu zweit«: Friedrich Schorlemmers Buch aus acht Büchern seiner Reihe »Lebenswege«
Ein Traum von Martin Walser, ein Satz von Hannah Arendt, eine Analyse von Günter Gaus, ein Vergleich von Botho Strauß
Martin Walser hat einen Traum, an dem er stets so sehr arbeitete, wie er daran litt. »Ideal wäre: vor anderen zu sprechen wie mit sich selbst.« Das ist der Traum. Es ist der Wunsch vom Mut, ganz bei sich zu bleiben – gerade dann, wenn man öffentlich wird. Vor anderen zu sprechen: nicht als automatischer Zwang, auch unbedingt zu ihnen zu sprechen. Aufklärung nicht als Gütesiegel für die eigene Äußerungsart, nicht als Belehrung, sondern als »Selbstforschung«.
Walser weiß: Der Traum ist nicht erfüllbar. Es bleibt in der »Auftrittssprache« besonders der Politik »immer eine Differenz zwischen dem, was wir denken, und dem, was wir sagen wollen«. Es gibt so vieles, was dem widerspricht, was wir laut sagen. Wir wissen das und verfeinern trotzdem stetig den Unterdrückungsapparat unseres Meinungsgehabes.
Wenn zum Beispiel der Maler Alfred Hrdlicka darauf bestand, ein Kerl habe eine Meinung zu haben, so stellte Walser immer wieder verwundert fest, dass in ihm mehrere Meinungen bequem Platz haben. Die Bruchstücke in uns, die Größe und auch die Feigheit, das Anpassungstalent und auch die Gabe zur Verweigerung, der Schweinehund im Kopf und zugleich der Schmetterling im Bauch – Walser erzählt sie als Einheit, aber er erzählt immer auch vom Kampf in uns, und meistens drängen wir uns zur Ruhe, zur Befriedung von Konflikten, zur Dämpfung des Widersprüchlichen. Walser hält sich in den Vorräumen des standpunktfesten Bewusstseins auf, wo sich Dunkles und Hellesüchtiges noch um Herrschaft balgen.
An Walser muss ich denken, da dieses Buch vor mir liegt: »Die Wahrheit zu zweit« von Friedrich Schorlemmer. Es bündelt, von Cerny bis van Veen, von Filip bis Schwarzer, von Brie bis Ullmann, von Modrow bis Solter 62 Gesprächsauszüge aus seinen acht Bänden »Lebenswege« – das waren 160 Porträts in Frage und Antwort, eine Veranstaltungsreihe in der Evangelischen Akademie der Lutherstadt Wittenberg. Das Gespräch als Begegnungsart, und hier führt Schorlemmer ein Wort Martin Bubers an, für den der wahrhafte Dialog von »rückhaltloser Hinwendung zum anderen« lebt. Die geistige Dehnübung besteht darin, mit der eigenen Meinung auch das »Dasein und Sosein« des anderen – zu meinen.
Schorlemmers Gesprächslust (ja, so schreibt er über seine Begegnungen: »es war allemal eine Lust ...«) kommt aus dem Vergleich – so wie in unserer Wahrnehmung alles stets nur im Vergleich mit etwas anderem Wert gewinnt. Der Autor lebte in der DDR, die er ein System der strukturellen, maßlos gesteuerten »Gesprächsverweigerung« nennt. In Analogie zum Schriftsteller Alexander Kluge, der den Mangel an Öffentlichkeit als »tödlichen Krebs« des behaupteten Sozialismus bezeichnet. Jeder Mensch mache privat und beruflich Erfahrungen, aber zum Selbstbewusstsein verknüpfen sich diese Erfahrungen nur in gemeinsamen Austauschen. Und die gab es in der DDR lediglich als selektiv gehandhabtes Herrschaftsinstrument. Das Informationswesen rackerte sich ab, um nicht zu informieren und um das ehrliche öffentliche Gespräch zu verhindern. Was von Mund zu Mund ging, war oft genug »nur« das, was der Bevor-Mundung durch Propaganda zu widerstehen versuchte. Interviewpartner wurden von Redakteuren »Zungen« genannt – für jene Wahrheit, die doch bereits vor einem Interview festgeschrieben war. Die genehmigte Öffentlichkeit wurde zu beträchtlichem Teil vom Kommuniqué bestimmt, von der Verlautbarung. (Wobei auch hier nichts ohne sein Gegenteil wahr ist: Der Schauspieler Eberhard Esche verfluchte die Zensur, meinte aber, sie habe ihn immerhin auch davor bewahrt, im Interview alles auskippen zu dürfen, was ihm so durch die Rübe gerauscht sei.)
Schorlemmer fragt nicht nur, er erzählt sich ins jeweils andere Leben hinein. Man spürt, er brachte sich durch genaue Vorbereitung in Schwierigkeiten – die darin besteht, dem Gesprächspartner wissend gegenüber zu treten. Paradox gesagt: Das gute Interview beginnt dort, wo der Fragende keine Fragen mehr hat. Augenhöhe ist Arbeit. Und dann beginnt ja gar nicht das Interview, es beginnt ein – Gespräch.
Auskunft tendiert dazu, allgemein zu sein. Der Widerspruch zwischen der Authentizität alles Gesagten und dem authentischen Ich ist dem Frager Schorlemmer bewusst. Es konnte ihm daher nicht darum gehen, diese Spannung zu umgehen, sondern darum, in einer Weise mit ihr umzugehen, die seiner Denkungsart und seinem eigenen Lebenszuschnitt entsprach. Im Grunde fragt Schorlemmer, damit dem Zuhörer und dann dem Leser bewusst werde und ihm bewusst bleibe, dass den Entscheidungsfeldern politischen, kulturellen, sozialen Geschehens nichts mehr und nichts weniger als ein begrenztes Menschenmaß zugrunde liegt.
Zeithorizont und biografische Ansätze bilden ja seltsamste Verknüpfungen; diese will der Interviewer einem Publikum nahebringen, das sich über Personen sachkundig macht, aber zugleich jede Sache personenbezogen betrachtet. Dazu gibt es einen nahezu klassisch gewordenen Gedanken von Günter Gaus: »Der Mangel an ordnender Kraft gegenüber den Ausblicken und Einsichten, die dem Staatsbürger von den verschiedenen Seiten angeboten werden, ist eine direkte Folge der anhaltenden Unsicherheit über das Wesen des politischen Raumes oberhalb der Gruppensphäre ( ... ) Die weitgehende Beziehungslosigkeit lässt sich allem Anschein nach nur durch einen anderen Vorgang überwinden und in ein Öffentlichkeitsbewusstsein oberhalb der pluralistischen Gliederung verwandeln: durch die Konfrontation mit handelnden Personen.«
Schorlemmer wagte, um es verkürzt zu sagen, marginale Teilnahme an einem großen Entwurf von Politik, ganz im emphatischen Sinne Hannah Arendts: »Der Sinn von Politik ist Freiheit.« Freiheit in solcher Perspektive ist keine Fähigkeit des einzelnen Subjekts, sondern eine Form des Miteinander-Seins, eine Wirklichkeit, die nur stattfindet, wo mehrere sich treffen. Freiheit nicht als Eigenschaft des isolierten Ichs, sondern als Chance des kommunikativen Ja-und-nein-sagen-Könnens, die sich einzig und allein im Miteinander-Reden vieler vollziehen lässt.
Jene Freiheit der Kommunikation, die den Ursprung und den lebendigen Grund einer öffentlich-gemeinsamen Welt bildet, ist freilich davon abhängig, dass sich dieser Raum der Öffentlichkeit stabilisiert und erneuert – in steter Selbstgestaltung durch Traditionen, Kritik und Institutionen (zu denen die Medien gehören). Dass dies, historisch betrachtet, ein extremer Ausnahmezustand bleibt, ist klar. Ein Blick rundum bestätigt den Verdacht, dass politische Macht und Interessengruppierungen die Freiheit kommunikativen Handelns beträchtlich ausgehöhlt und der Gesellschaft ihren Willen aufgedrückt haben.
Beträchtliche Teile jener Politik, die geschieht, sind kontrollierenden, ausformenden Zugriffen entzogen. »Fugenlos«, um noch einmal Gaus zu zitieren, »werden die Bedürfnisse des Kapitals inzwischen gleichgesetzt mit den Idealen der Demokratie«.
Und ausgerechnet das Fernsehen mit seinen Talkshows wurde zu einem Motor dieser Entsittlichung des Öffentlichen. Es grassiert Fern(bedienungs)steuerung, die letztlich anfällig macht für Verhaltensweisen, die einen wie Schorlemmer – in den Gesprächen ablesbar – äußerst bestürzen: Rückzüge in selbstgefällige Privatheit, auftrumpfend zynisches Bewusstsein oder anmaßendes Welturteil, das instinktsicher nur eigener Unbildung vertraut, unbehelligt vom Bedürfnis nach differenzierter Argumentation.
So liest sich dieses Buch als Gegenentwurf zum weltzerstückelnden Schalten und Walten großmächtiger Medien, durch deren Konsum wir – wie Botho Strauß es formuliert – Ideenflucht und leichten Wahn für das Normale halten. Ein elektronisches Schaugewerbe führe seinem Publikum die Welt im äußersten und auch lautesten Illusionismus vor, der möglich ist. Alles Geschehen fällt sich fortwährend ins Wort. Was stattfindet, ist ein unablässiges Aufleuchten und Abschießen von Meinungen, Mentalitäten, Menschen. Öffentlichkeit, allesfressende, so Strauß, »klettert wie die Wanderratte durch die Leitungsrohre«. Ausgekippt werden Megatonnen von Vernunftabfall. Und was speziell die Interviewkultur betrifft: Die Unterhaltungen irren dahin, sprunghaft und quer; voll fahriger Schnitte vollzieht sich die Treibjagd des Bunten gegen das Farbige. Der inflationäre Fernsehtalk reizt Strauß zum Vergleich: »Zwischen einem Schau-Gespräch und einem Schau-Prozess« gebe es oft »nur graduelle Unterschiede in der Vorführung von Denunzierten«. Das Leitmedium der Globalisierung: »unblutigste Gewaltherrschaft und zugleich der umfassendste Totalitarismus«. Der lasse keine Köpfe rollen, er macht diese überflüssig. Sein Drill des unbedingt Vorübergehenden kenne keine Feinde und Untertanen, sondern nur noch Mitwirkende.
Vor diesem Hintergrund, unter dem Aspekt dieser Kombination aus Unterhaltung und der Selbsttäuschung, es werde Öffentlichkeit hergestellt, wo doch nur Oberfläche sichtbar gemacht wird, wirken die Gespräche des Friedrich Schorlemmer wie ein Organismus, der sich unterm Rauschen der Zeit in ein (noch) sicheres Eckchen duckt. Die Nischengesellschaft lebt und übersteht und – widersteht.
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