Dichtung und Wahrheit zur Einheit

Schönfärberei der Bundesregierung, nüchterne Bestandsaufnahme beim DIW

  • Wolfgang Kühn
  • Lesedauer: 3 Min.
Wie beurteilen Regierung und Sozialforscher das zentrale politische Ziel der Wiedervereinigung: die Anglei-chung der Lebensverhältnisse in Ost und West? Zwei Publikationen geben darüber Auskunft.

Ende September präsentierte die Bundesregierung einen Bericht unter dem Titel: »20 Jahre Deutsche Einheit: Eine positive Bilanz«. Einige Wochen später stellte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) den gewichtigen Sammelband »Leben in Ost- und Westdeutschland. Eine sozialwissenschaftliche Bilanz der deutschen Einheit 1990-2010« vor.

Ein kleines Wirtschaftswunder?

Der Regierungsbericht jubelt: Die Angleichung der wirtschaftlichen Leistungskraft Ostdeutschlands auf 73 Prozent des Bruttoinlandsprodukts West sei als ein kleines »Wirtschaftswunder« zu verstehen. Die Beweisführung bleibt jedoch verhalten. Auf ein gesondertes Kapitel über Einkommen und Verdienste wurde in dem 274-seitigen Bericht verzichtet. Stattdessen wird lapidar behauptet: »Die Löhne (Bruttolohn- und Gehaltssumme je Arbeitnehmer) haben sich in den ostdeutschen Ländern von knapp 57 Prozent des westdeutschen Niveaus in 1991 auf 83 Prozent in 2009 erhöht.« Das ist in mehrfacher Hinsicht schlichte Demagogie. Erstens wird das gesamte Land Berlin mit seinem traditionell höheren Lohnniveau Ostdeutschland zugerechnet. Ohne diesen Hauptstadteffekt beträgt die Lohnangleichung aller abhängig Beschäftigten nur 79 Prozent. Zweitens gab es nach jahrelanger Stagnation der Angleichung 2009 einen Einmaleffekt – die Differenz verringerte sich, weil in Westdeutschland die Löhne bedingt durch die massenhafte Kurzarbeit absolut sanken; bereits 2010 wird die Differenz mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder größer werden. Die Begriffe »Armut« und »Niedriglohn« tauchen im gesamten Regierungsbericht nicht auf.

Nüchterner und differenzierter wurde bei der Vorstellung des Sammelbandes vom DIW Berlin bilanziert: »Nach der Vereinigung waren in vielen Bereichen schnelle Fortschritte zu beobachten – die Lebensbedingungen haben sich in Ost und West schnell aufeinander- zubewegt. Doch schon seit Mitte der 90er Jahre fächerte sich dieser Prozess auf: Die Einkommensunterschiede zwischen Ost und West sind beispielsweise zuletzt wieder gestiegen.« Mit Blick auf die sozialpolitisch bedeutsame Entwicklung im unteren Einkommensbereich haben die Armutsrisiken der ostdeutschen Bevölkerung in der letzten Periode überproportional zugenommen, so die DIW-Forscher. Der Einkommensabstand zwischen Ost und West ist damit nach Perioden der schnellen Angleichung sogar wieder angewachsen. Die Armutsquote der Erwerbstätigen – wohlgemerkt ohne Arbeitslose und ohne Rentner – ist in Ostdeutschland zwischen 1996 von 5,2 Prozent auf 9,0 Prozent im Jahr 2008 gestiegen. Im Westen gab es einen Anstieg von 3,5 auf 5,7 Prozent.

Programmierte Altersarmut

Ein weiteres Beispiel: Die monatlich verfügbare Eckrente in den neuen Ländern stieg von rund 344 Euro im Jahr 1990 auf rund 977 Euro im Jahr 2009, in den alten Ländern von rund 852 auf rund 1101 Euro, verkündet der Regierungsbericht zur Deutschen Einheit. Dieser »Eckrentner« – ein Versicherter mit durchschnittlichem Bruttojahresarbeitsentgelt und 45 anrechnungsfähigen Versicherungsjahren – dürfte inzwischen zu einer Ausnahmeerscheinung im Westen wie im Osten geworden sein. Im DIW-Bericht wird festgestellt, dass dauerhafte Erwerbstätigkeit bis zum Rentenalter nur für ein knappes Drittel der Westdeutschen und ein Viertel der Ostdeutschen Realität ist. Gleichzeitig gehen über die Hälfte der West- und fast zwei Drittel der Ostdeutschen frühzeitig in Rente. Damit ist Altersarmut in allen Teilen der Bundesrepublik programmiert. Derartige Gegenüberstellungen können noch für weitere Sachverhalte fortgeführt werden.

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