Leben am toten Gleis
In vielen Regionen sind Schulbusse längst die einzige Möglichkeit, sich mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu bewegen
Schwerin/Dresden/Gransee. »Wenn der Abbau nicht so teuer wäre, würden die Schienen wohl auch schon weg sein«, vermutet Herta Schödwell. Die 75-Jährige blickt fast sentimental die Gleise entlang, die ihr mecklenburgisches Dörfchen Buschhof mehr als 100 Jahre lang mit Wittstock in Nordbrandenburg verband. Seit zehn Jahren fährt hier kein Zug mehr.
14 Prozent ohne Auto
Im südthüringischen Kaltennordheim sind die Schienen hingegen schon weg. Der Betrieb der Feldabahn, die jahrzehntelang Bergleute aus der Hohen Rhön zu den Kali-Schächten an der Werra brachte, hatte sich nach der Wende nicht mehr rentiert. In vielen ländlichen Regionen Ostdeutschlands liegen heute Gleise still, sind Schulbusse oft einzige Möglichkeit, mit einem öffentlichen Verkehrsmittel überhaupt von der Stelle zu kommen.
Veränderte Arbeitswege, der Wegzug vornehmlich junger Leute aus den Dörfern, sprunghafte Zunahme privater Fahrzeuge und Straßenbau im Interesse des Individualverkehrs – das sind nach Einschätzung von Steffen Dutsch Hauptgründe für die spürbare Ausdünnung des Angebots im Nahverkehr. »Doch diese Entwicklung geht in die falsche Richtung«, warnt der Verkehrswissenschaftler von der Technischen Universität Dresden. Jüngste Studien hätten ergeben, dass knapp 14 Prozent der Landbevölkerung kein Auto haben und somit auf Bus und Bahn angewiesen sind. »Jeder siebte Haushalt, das ist keine Randerscheinung. Zumal man bedenken muss, dass es sich meist um ältere Menschen handelt und selbst alltägliche Wege heutzutage oft aus dem Dorf weg zur nächst größeren Gemeinde führen.« Herta Schödwell bestätigt: »Nur wenn Schule ist, können ältere Leute ohne eigenes Auto mit dem Schulbus morgens zum Arzt oder zum Einkaufen fahren und mittags zurück. In den Ferien gibt es gar keine Anbindung.« Sie selbst habe ja noch ein Auto, aber ihre allein lebende Schwägerin nicht. »Früher fuhr alle zwei Stunden ein Zug durch Buschhof«, erinnert sich Schödwell. Lang ist es her. Und er wird wohl auch nie wieder fahren.
Eine Studie des Bundesverbandes der Verbraucherzentralen förderte zutage, dass in den ostdeutschen Ländern die Regionalbahnen häufig uneffektiv organisiert sind – und Sachsen sogar zu den Ländern mit der geringsten Bahnnutzung gehört.
Dutsch hält einen klugen Mix unterschiedlicher Verkehrssysteme für den besten Weg, angemessene Mobilität – auch ohne Auto – zu sichern. »Wir müssen mehr in Korridoren und in Takten denken. Ich kann auf dem Lande nicht wie in der Großstadt alle fünf Minuten von der Stelle kommen. Aber, wenn ich mich auf einen festen Rhythmus der Linien, ob im Stunden- oder Zweistundentakt, verlassen kann, ist schon viel erreicht.« Und bis zum allerletzten Hof müsse die Buslinie auch nicht unbedingt führen. »Das macht das System unverhältnismäßig teuer.«
Ruftaxen, die nur auf Bestellung fahren, und Bürgerbusse könnten solche Lücken schließen. In Sachsen-Anhalt hätten sich diese bestens bewährt, hieß es aus dem Verkehrsministerium. Mit dem ersten Rufbus im Jahr 2000 sei man bundesweit Vorreiter gewesen. Derzeit gebe es landesweit 467 Rufbus-Linien, die sich nach einer Anschubfinanzierung inzwischen selbst trügen.
Der Meseberg-Effekt
Und auch in den Dörfern rund um Gransee in Nordbrandenburg funktioniert das System offenbar. Die Verkehrsgesellschaft Oberhavel stellt Bus und Kraftstoff. Die vier jeweils einstündigen Rundfahrten über acht Dörfer übernehmen ehrenamtliche Chauffeure. »Das funktioniert sehr gut. Auch Touristen nutzen den Bürgerbus, weil eine Station Meseberg mit dem Gästehaus der Bundesregierung ist«, erzählt Ralf Kirche, Mitglied im Bürgerverein und Mitarbeiter in der Amtsverwaltung.
Ob es am Fehlen solch lukrativer Ziele liegt? Im Müritzkreis weiter nördlich wurde ein vorübergehend eingesetzter Bürgerbus mangels Nachfrage wieder eingestellt. »Früher waren unsere Treffpunkte beim Dorfkonsum, bei der Poststelle oder beim Landarzt sowie an der Bus- oder Bahnhaltestelle«, berichtet Petra Kuntzsch aus Hinrichshagen, einst Station dieser Linie. Das sei nun fast alles weg aus dem Dorf.
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