Mindestrente in Bolivien
Regierung verstaatlicht Pensionssystem und senkt das Rentenalter
Nach einem zweitägigen Verhandlungsmarathon hat das bolivianische Unterhaus den Grundentwurf für eine ambitionierte Rentenreform beschlossen. Einmal in Kraft, könnten rund 40 000 Personen sofort in Rente gehen, wovon 30 000 die neu zu schaffende Mindestrente erhalten, teilte der Vizeminister für Renten, Mario Guillén, mit.
Eine der wichtigsten Änderungen, die das neue »Pensionsgesetz« vorsieht, ist die Herabsetzung des Renteneintrittsalters von 65 auf 58 Jahre. Boliviens durchschnittliche Lebenserwartung lag letzten Berechnungen von 2008 zufolge bei 66. Dadurch verstirbt eine große Zahl der Versicherten, bevor sie überhaupt in Rente gehen. Ferner wird in dem Entwurf erstmals die Rolle der Frau in Sachen Kindeserziehung berücksichtigt. Bei Müttern verringert sich das Eintrittsalter pro Kind um ein Jahr, ingesamt um maximal drei Jahre. Rentenberechtigt ist jeder Arbeitnehmer, der mindestens 240 Monate in die Rentenkasse eingezahlt hat.
Der Staat garantiert zudem eine Mindestrente. »Das alte Modell überließ den Arbeiter seinem Schicksal«, erklärt Wirtschaftsminister Luis Arce die Vorteile gegenüber dem alten Gesetz. Ein Lehrer, der 30 Jahre lang gearbeitet und ein Gehalt von 3000 Bolivianos (315 Euro) bezogen hat, bekam bisher eine Rente von 860 Bolivianos (90 Euro). Mit der Reform steigt sein Alterssalär auf mehr als das Doppelte, nämlich auf 2050 Bolivianos. Ein Fabrikarbeiter mit 25 Jahren Arbeitszeit und einem Lohn von 2800 Bolivianos bekam 570 ausgezahlt. Durch das neu eingeführte »System der Solidarität«, wonach die Kassen Niedrigverdienern einen Beitrag für eine »würdige Rente« zuschießen, werden ihm 1779 Bolivianos gezahlt.
Der Annahme im Parlament waren Verhandlungen der Regierung der Bewegung zum Sozialismus (MAS) mit dem Gewerkschaftsdachverband Central Obrera Boliviana (COB) vorausgegangen. »Der Betrag der Rente wurde nach unseren Wünschen geändert«, sagte COB-Chef Pedro Montes zufrieden. 1540 Bolivianos nach 20 Jahren und 2600 Bolivianos nach mehr als 30 Jahren Beitragszahlung seien »für die kommenden 35 Jahre sicher«, erklärte der Gewerkschaftsführer. Auf einer Generalversammlung vor zwei Wochen hatten 44 der 47 Gewerkschaftsorganisationen dem Regierungsvorschlag zugestimmt und den Weg für die Abstimmung im Parlament frei gemacht. »Den Arbeitern und dem bolivianischen Volk wollen wir mitteilen, dass dieses Ergebnis eine sehr demokratische Entscheidung ist«, erklärte Montes.
Die Opposition griff das Regierungsprojekt dagegen als »unbezahlbar« an. Der Widerstand kommt aus den politischen Kreisen, die in den 90er Jahren die Privatisierung der Rentenkassen vorangetrieben hatten.
Die MAS-Regierung will die privaten Pensionsfonds (AFP), die von zwei Konsortien aus der Schweiz und aus Spanien gemanagt werden, nun wieder unter öffentliche Kontrolle bringen. Dafür muss sie tief in die Tasche des Staates greifen. Über die Bedingungen der Rückkaufaktion verhandelt das Wirtschaftsministerium derzeit noch mit der spanischen Großbank BBVA und dem Schweizer Versicherungskonzern Zurich Financial. Wie die Regierung mitteilte, werde Boliviens Nationalbank AFP-Pakete im Wert von insgesamt rund drei Milliarden US-Dollar von den ausländischen Privatinstitutionen zurückkaufen müssen, um sie in einen staatlichen Fonds zu überführen.
Kapitalsystem
Auf Drängen des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank beschloss 1996 die damalige Regierung Boliviens die Umwandlung des umlagebasierten Rentensystems in ein individuelles privates Altersvorsorgesystem. Fortan verwalteten zwei private Fondsgesellschaften (AFP) die Rentenbeiträge und investierten diese am Kapitalmarkt. Jeder Arbeitnehmer zahlt zehn Prozent seines Lohns auf sein individuelles Rentenkonto beim »Fonds zur individuellen Kapitalbildung« ein. Arbeitgeber sind weitgehend von Beiträgen freigestellt. Aus dem »Fonds zur kollektiven Kapitalbildung«, der 50 Prozent der Aktien mehrerer privatisierter Staatsunternehmen verwaltet, wird eine Art Grundrente für alle Bürger über 65 finanziert. Dieser Fonds weist aber ein chronisches Defizit auf, da sich die Unternehmen arm rechnen und so ihre Dividendenzahlungen drücken. Der Staat musste daher einspringen, was zu einem starken Anstieg des Haushaltsdefizits führte. ND
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