Die Stadt, die niemals schläft
Ho-Chi-Minh-Stadt, das frühere Saigon, ist nichts für Nervenschwache und Müßiggänger
Wer stehenbleibt, hat schon verloren. Wenn auch das Herz rast und der Angstschweiß in Strömen den Rücken runterläuft: Nur, wer furchtlos weiterläuft, wird sicher das rettende Ufer oder besser die andere Straßenseite erreichen. Anfangs nehmen wir noch dankbar die Hilfe der Polizisten an, die überall an den Straßen von Saigon – das seit der Wiedervereinigung 1976 offiziell Ho-Chi-Minh-Stadt heißt – stehen und ängstliche Touristen über den Damm führen.
Der Straßenverkehr ist die erste Attraktion der Stadt, die jeden Fremden in ihren Bann zieht. Rund sieben Millionen Einwohner habe sie und wohl ebensoviele Mopeds, erzählt Tho, für den das Verkehrschaos in seiner Heimatstadt völlig normal ist. Den Gast indes beschleicht das Gefühl, diese sieben Millionen Mopeds rasen alle gleichzeitig auf ihn zu. Ein Ordnungsprinzip ist nirgends zu erkennen: Sie preschen in Vierer- bis Sechserreihen nebeneinander aus allen Richtungen auf eine Straßenkreuzung zu, mit angehaltenem Atem starrt man auf das Knäuel: Gleich müssen sie aufeinanderprallen! Doch im letzten Moment fahren sie – wie von Geisterhand gelenkt – aneinander vorbei. Ampeln gibt es zwar überall, werden aber bestenfalls als unverbindliches Angebot angesehen. Genauso wie Einbahnstraßen, Zebrastreifen oder Verbotsschilder.
Das Moped ist Universaltransportmittel. Ganze Familien – Mutter, Vater und zwei bis drei Kinder – quetschen sich auf so ein Teil, und es findet sich sogar noch Platz für Kisten und Körbe. Mit dem Moped werden Fernsehapparate, Schränke oder Bierkisten transportiert. Zwei an den Beinen zusammengebundene Schweine finden locker auf dem Beifahrersitz Platz, dahinter klemmt ein Käfig mit Hühnern. Ein Mann balanciert fünf Autoreifen durch den Verkehr – je zwei rechts und links, einen hat sich der Fahrer wie einen Schwimmring um den Bauch gelegt. Dass die meisten Frauen einen Mundschutz tragen, der bis auf einen Sehschlitz das Gesicht verdeckt, dient nur in zweiter Linie gegen den Abgasgestank der Zweitakter, sondern vielmehr als Schutz gegen die Sonne. Ihre Haut soll weiß bleiben, so will es das Schönheitsideal.
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Dieses Gewusel auf den Straßen ist symbolhaft für das frühere Saigon. Die größte Stadt Vietnams schläft nie, sie ist laut, fröhlich, hektisch, süchtig nach Leben. So, wie die Mehrheit ihrer Bewohner, von denen 60 Prozent jünger als 25 Jahre alt sind. Seit Mitte der 80er Jahre hat sie sich in rasantem Tempo zum Finanz- und Wirtschaftszentrum des Landes entwickelt. Wolkenkratzer, Nobelhotels und Banken schossen in den vergangenen zwei Jahrzehnten wie Pilze aus dem Boden. Ein Ende des Baubooms ist nicht abzusehen. Im Dezember wird mit dem Geschäfts- und Bürohaus The Financial Tower das mit 262,5 Meter höchste Gebäude der Stadt fertiggestellt. Der 68 Stockwerke hohe Turm aus Stahl und Glas ist einer Lotosblüte nachempfunden, die in Asien als Sinnbild für Reinheit und Schöpferkraft gilt.
Ganzer Stolz der Stadtplaner aber ist das am östlichen Ufer des Saigonflusses gelegene Viertel Thu Thiem. Hier entsteht in den nächsten Jahren auf einer Fläche von rund sieben Quadratkilometern ein neues Zentrum aus der Retorte mit Wolkenkratzern, Kulturzentren, Parks, künstlichen Seen, Wohnungen und Boulevards.
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Das historische Saigon dagegen duckt sich eher bescheiden zwischen neuen Hotels und Bankgebäuden. Es braucht eine Menge Fantasie, um in der aufstrebenden quirligen Metropole das beschauliche »Paris des Ostens« zu sehen, wie Saigon während der französischen Kolonialzeit zwischen 1862 und 1954 bezeichnet wurde. Am ehesten findet man es noch in der Duong Dong Khoi, der früheren wie heutigen Flaniermeile, die von der zwischen 1877 und 1883 erbauten doppeltürmigen Kathedrale Notre-Dame hinunter zum Saigonfluss führt. Sie zieht Touristen wie Einheimische gleichermaßen an. In den zum großen Teil gut sanierten kolonialen Jugendstilgebäuden haben sich alle großen Marken dieser Welt breitgemacht. Wer das nötige Kleingeld mitbringt, kann sich hier im siebten Shoppinghimmel so richtig austoben. Und das sind beileibe nicht nur Amerikaner und Europäer, sondern auch immer mehr Vietnamesen. Ho-Chi-Minh-Stadt hat die höchsten Einkommen des Landes, sie liegen im Schnitt dreimal so hoch wie anderswo in Vietnam. Immer mehr gut ausgebildete junge Leute zieht sie an, das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es hier andererseits noch große Armut gibt. Doch die Armen leben zumeist weit draußen, dort, wohin sich kaum ein Tourist verirrt. Nur als fliegende Händler und zum Betteln kommen sie in die glitzernde City.
Die Duong Dong Khoi ist auch die Straße der Schlitzohren und Geschäftstüchtigen. Wer nicht aufpasst, hat schnell eine echte gefälschte Rollex oder ebensolche Markenklamotten für viel Geld gekauft. Und man muss schon starke Nerven besitzen, um den unentwegt auf einen einprasselnden Angeboten von Rikschafahrern zu widerstehen, die den Gast durch die Straßen kurven wollen. Länger als einen halben Tag hält man sein »No, thank you!« zumeist nicht durch und steigt – um endlich Ruhe zu haben – doch in so ein Cyclo, wie die dreirädrigen Gefährte heißen. Und fragt sich bald, warum man es nicht schon früher getan hat. Denn es ist eine durchaus angenehme, kurzweilige und obendrein preiswerte Art, die Stadt aus einer anderen Perspektive zu entdecken.
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Vom Glanz der Belle Époque zeugt das ehemalige Rathaus am Nguyen Hue Boulevards. Das 1908 im französischen Kolonialstil erbaute Gebäude, in dem die Stadtregierung seinen Sitz hat, strahlt heute wieder in leuchtendem Gelb. Gegenüber, in einem kleinen Park, befindet sich eines der beliebtesten Fotomotive der Stadt: das Denkmal, das »Onkel Ho« mit einem Kind auf dem Schoß zeigt. Ho Chi Minh verehren die Vietnamesen wie keinen Zweiten. Wo auch immer sein Name genannt wird, zaubert er ihnen ein Lächeln ins Gesicht.
Auch im Hauptpostamt, gleich neben Notre Dame, überschaut er von einem überdimensionalen Bild an der Stirnseite das Treiben. Schon, weil die Post wohl einer der wenigen Orte in der ganzen Stadt ist, wo man für einen Moment Ruhe findet, lohnt der Weg dorthin. Aber auch ihrer Architektur wegen. Das zwischen 1886 und 1891 erbaute Gebäude beeindruckt vor allem durch seine Gusseisenkonstruktion mit einem gewaltigen Tonnengewölbe aus Glas und Eisen, das die Handschrift von Gustave Eiffel trägt, der auch Paris zu seinem Wahrzeichen verhalf. Mit einem bisschen Glück sieht man in der Post alte Männer sitzen, denen Menschen, die selbst nicht schreiben und lesen können, Briefe diktieren oder sich Post von ihnen vorlesen lassen.
Nur wenige Schritte von der klassizistischen Oper am Lam Son-Platz liegt auf das legendäre Hotel Continental. Hier logierte am Ende der französischen Kolonialzeit der englische Schriftsteller Graham Greene und schrieb an seinem Roman »Der stille Amerikaner«, den man an jeder Straßenecke in allen Weltsprachen kaufen kann. Zwar existiert die von Greene im Roman verewigte Dachterrasse nicht mehr, das Hotel mit seinem schattigen Innenhof aber ist dennoch einen Blick wert. Eine andere berühmte Hotelterrasse allerdings gibt es noch, die des noblen »Majestic« am Ende des Prachtboulevards Duong Dong Khoi. Auch hier saßen Graham Greene und seine Romanhelden, vor allem aber war sie während des Vietnamkriegs der Amerikaner Treffpunkt der Kriegsberichterstatter. Heute kommen hierher allabendlich vor allem Touristen, um bei Coctails, die »Miss Saigon« oder »Kamikaze« heißen, den Sonnenuntergang überm Saigonfluss zu genießen und das auch Nachts nicht enden wollende Gewusel auf der Straße zu beobachten.
- Infos zu Vietnam: Botschaft der Sozialistischen Republik Vietnam, Elsenstr. 3, 12435 Berlin, Tel.: (030) 53 630-108, Fax: -200,
- E-Mail: info@vietnambotschaft.org, www.vietnambotschaft.org, touristische Infos auch unter: www.vietnam-aktuell.de
- Reisen nach Vietnam bieten viele Unternehmen an, u.a. Lernidee Erlebnisreisen, Eisenacher Straße 11, 10777 Berlin, Tel.: (030) 786-00 00, Fax: -55 96, E-Mail: team@lernidee.de, www.lernidee.de
- Literatur: Vietnam, Tour Guide, Nelles-Verlag, ISBN: 978-3-88618-792-8, 12,90 €
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