Kein Sozialismus ohne Macht
Felix Bartels' Studie zu »Leistung und Demokratie« im Werk von Peter Hacks – und was sie heutige Linke angeht
Natürlich ist es ein gewagtes Unterfangen, die Ergebnisse einer literaturwissenschaftlichen Untersuchung von ihrem Gegenstand zu lösen. Im Falle von Felix Bartels' Abhandlung »Leistung und Demokratie« deckt sich die der Literaturanalyse zugrundeliegende gesellschaftliche Problematik indes derart frappant mit gegenwärtig stattfindenden politischen Kämpfen um das bisschen Sozialstaat, das zwanzig Jahre nach dem Ende der Systemkonkurrenz noch übrig ist, dass es lohnt, das zu Tage beförderte Denken des Dichters als »Beitrag zur Theorie der sozialistischen Gesellschaft« auf seine aktuelle Anwendbarkeit hin zu überprüfen.
Womit befasst sich Bartels? Zum einen, dies detailliert und kenntnisreich, mit dem Werk des Peter Hacks, namentlich mit einer Reihe von dessen Dramen und den diese begleitenden Essays. Was, zum anderen, findet er darin? Die künstlerische Vermittlung von Widersprüchen, nämlich solcher zwischen »Held und Volk, Reichtum und Gleichheit, Produktivität und Vergesellschaftung, Wachstum und Gesittung, Geist und Institution, Freiheit und Demokratie, Ökonomie und Politik, Spezialisten und Apparat«. Worauf zielt der Autor mit seiner Untersuchung? Zwei Zwecke benennt er gleich zu Beginn: »einmal durch den Dichter Hacks seine Zeit, zum anderen – und das ist der wichtigere – durch die Zeit den Dichter zu begreifen«.
Diese Wichtung, vielleicht, legitimiert den Versuch einer Vergegenwärtigung des Hacksschen Denkens, denn obwohl Bartels sich in seiner Analyse eng an die geschichtliche Wirklichkeit hält, in der Peter Hacks die verhandelten Werke schuf, mithin an die »gesellschaftlichen Verhältnisse der DDR«, liegt es doch durchaus nahe, dass die »Struktur hinter der Struktur« dieses Denkens historisch übergreift, dass sich also darin »ein Bild von der Welt« offenbart, »das einem Weltbild zugrunde liegt«. Zwar ist es möglich, Hacks' Abwendung vom sozialistischen Realismus, seine Hinwendung zu klassischen Stoffen schlicht als Mittel der Codierung eines wirklich Gemeinten zu betrachten, also etwa zu entschlüsseln: Wenn er in seinem 1968 nach Herodot verfassten Stück »Prexaspes« den persischen König Kambyses sprechen lässt, spricht eigentlich Ulbricht. Dem Hacksschen Klassik-Verständnis angebrachter aber wäre es doch gewiss zu vermuten: Indem Ulbricht hier durch Kambyses spricht, verweist der Dichter auf Thematiken, die die Zeit überdauern und in jeder Epoche auf die ihr gemäße Weise angegangen werden müssen. Vorausgesetzt freilich, man hält eine Welt, wie sie der Dichter will, selbst für erstrebenswert.
Daran, dass er den Sozialismus wollte, besteht bei Peter Hacks kein Zweifel. Felix Bartels weist sehr überzeugend nach, wie er ihn unter den Bedingungen seiner Zeit wollte. Von zentraler Bedeutung zum Verständnis dieses »wie« ist Hacks' These von der Analogie zwischen Absolutismus und Sozialismus. Dieser Analogie, so Bartels, lässt sich »entnehmen, welche Funktion Hacks dem Staat überhaupt zuschreibt: die Vermittlung zwischen den partikularen Interessen einander bekämpfender gesellschaftlicher Gruppen und die Herstellung einer Gerechtigkeit zeugenden Gesamtbewegung«. Diese Gruppen (oder Klassen, wenn wir es marxistisch haben wollen) sind heute sehr viel kenntlicher, als sie es in der DDR gewesen sind, wenngleich von ihren Kämpfen einstweilen nicht allzu viel zu sehen ist, es sei denn im Wahlkampf. Von nichts anderem aber als vom Gegeneinander jener Stimmen, die »Reichtum für alle« fordern, und jenen, die Slogans wie »Leistung muss sich wieder lohnen« skandieren, handelt im Kern Felix Bartels' Buch, handeln die darin analysierten Dramen des Peter Hacks.
Um es vorwegzunehmen: Beiden Gruppen, jener der Leistungsträger (Garanten der Produktivität) und jener der Gleichheitsbefürworter (Garanten der Humanität), weist Hacks, wie Bartels zeigt, eine notwendige Funktion »in der Gesamtbewegung der Gesellschaft« zu. Entscheidend für den zielgerichteten Verlauf dieser Bewegung indes ist eine dritte Kraft, welche die gegenläufigen Interessen der ersten beiden auf einer höheren Ebene kraft ihrer Autorität vermittelt. Gemeint ist der starke, souveräne Staat, sei es in Gestalt eines Ulbrichtschen Staatsrates als »Entscheidungsgremium außerhalb von Parteistrukturen«, sei es – mit Hacks – in Gestalt des vernünftigen Monarchen, der die Gesellschaft als Ganzes zusammenhält.
Dem Anarchisten kann ein solches Modell so wenig gefallen wie dem dogmatischen Parteigänger. Dialektisches Denken liegt beiden nicht.
Felix Bartels analysiert, wie gesagt, Hacks' Dramen in ihrem Bezug auf Problemlagen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit der DDR. Dabei macht er in der Begriffsbildung des Dichters drei sozialistische Klassen aus, von denen die Arbeiterklasse, »die als einzige der drei Gruppen dem [marxschen, M.H.] Begriff der Klasse gerecht wird, bei Hacks im Funktionsverhältnis, das er der gesellschaftlichen Bewegung zugrunde legt, außer Betracht ist. Bestimmend in diesem Verhältnis bleiben die beiden anderen Gruppen: die Parteileute als die Sachwalter des sittlich-menschlichen Anspruchs, der sich in der Vergesellschaftung der Produktionsmittel, der Abschaffung der Ausbeutung und der gerechten Verteilung des Reichtums zeigt, und die Spezialisten, die für den ökonomischen, technischen und wissenschaftlichen Fortschritt, für die Entwicklung der Produktivkräfte stehen.« Den Realitätsbezug dieser Konstellation findet Bartels in den ökonomischen Bedingungen der frühen sechziger Jahre. Die orthodoxe Planwirtschaft hatte sich, weil sie sich auf Mengenvorgaben beschränkte, zulasten der Produktqualität ausgewirkt. Dieser Tendenz versuchte Ulbricht mit dem »Neuen ökonomischen System der Planung und Leitung« (NÖS) entgegenzusteuern, das, so Bartels, »die Funktion der Planung differenzierter verstand, das meint: den Handlungsspielraum der einzelnen Betriebsleiter und – wir werden hellhörig – den Einfluß der Fachleute auf die Wirtschaftsplanung erhöhte« und Privatbetrieben größere Entfaltungsmöglichkeiten eröffnete. Dass Felix Bartels uns Peter Hacks als Anhänger dieser Idee vorstellt, versteht sich fast von selbst. Dass Hacks den Sozialismus mit Ulbrichts Abgang und dem Ende des NÖS in seiner fortschrittlichen Entwicklung gefährdet sah, verdient unbedingt Erwähnung. Untersuchenswert wäre, wieviel NÖS, »das zu Ändernde geändert« (Hacks), in der aufstrebenden Wirtschaftsmacht China steckt, die das Wort Sozialismus stark modifiziert, aber immerhin ins ach so globalisierte, ach so neoliberale 21. Jahrhundert herübergerettet hat.
»Leistungsprinzip, das bedeutet den progressiven Charakter von Ungleichheit, während doch für den Progreß kein anderes Ende gedacht werden kann als Abschaffung der Ungleichheit«, hatte Hacks 1957 geschrieben. Bartels: »Dieses Paradoxon ist aber nichts anderes als der Widerspruch zwischen der Utopie des Sozialismus und seiner Wirklichkeit.« Die Frage, ob und wie die Utopie des Sozialismus mit der heutigen, ganz und gar nicht sozialistischen Wirklichkeit vermittelt werden kann, sollte sich jeder Linke stellen, der eine gerechte Gesellschaft tatsächlich anstrebt, statt nur seinem diffusen Unbehagen am Bestehenden Ausdruck verleihen oder an schönen Träumen festhalten zu wünschen. Um es Hacks' Figur des Columbus sagen zu lassen: »Ich würde ganz gern ein anderes Zeitalter machen, doch es steht fest, daß ich, wenn überhaupt eins, nur dieses machen kann. Seine Zeit um ein weniges vorangebracht zu haben, ist die dem Menschen bestimmte Form der Ewigkeit.« Um die Weltfremdheit der reinen Utopie mit der jedenfalls verbesserungswürdigen Wirklichkeit zu vermitteln, behilft Peter Hacks sich mit einer Haltung, die er »fröhliche Resignation« nennt. Resignation heißt hier: das sich Einfinden (bei Hacks: des Genies, des dramatischen Helden) in die Erkenntnis, dass das Denkbare noch längst nicht das Machbare ist. »Fröhlich« aber heißt: durch zukunftsgerichtetes Handeln innerhalb der gesellschaftlich realistischen Möglichkeiten dennoch festzuhalten am niemals erreichbaren Ziel. Kürzer: kein Fortschritt ohne Ideal.
Gegen Ende und am Rande seiner denkwürdigen Studie schlägt Felix Bartels den Bogen von der Welt, in der Hacks schrieb, in unsere eigene: »Auch die Freiheit ist ein Ideal, und wie alle Ideale wird sie undurchführbar, wenn sie absolut verwirklicht werden soll. [...] Wer von Freiheit spricht, spricht stets von jemandes Freiheit, und in aller Regel von seiner eigenen. [...] Demokratie stellt einfach den Willen einer Mehrheit her, und das heißt zwangsläufig, daß die Möglichkeiten der Minderheit – der starken wie der schwachen – beschränkt werden. Auch dieses Verhältnis zu beschreiben ist ein Tabu, das sich bis in unsere Gegenwart erhalten hat, wo man ja allgemein von freiheitlich-demokratischen Verhältnissen spricht, ohne sich dessen bewußt zu sein, daß man mit dieser doppelten Begrifflichkeit einen unauflösbaren Widerspruch bezeichnet.«
Die Spannungen zwischen Individuum und Gemeinschaft, heißt das, werden bestehen bleiben, solange es Menschen gibt, weil sie »unmittelbar aus der menschlichen Natur kommen« (Bartels). Sie auf eine gleichermaßen menschen- und menschheitswürdige Weise zu vermitteln, bedarf es einer dritten Kraft, die ihrer Aufgabe mittels Autorität walten muss. Wie diese Kraft beschaffen sein kann, und ob sie Staat heißt, wenn sie König nicht mehr heißen kann, muss im Widerstreit verschiedener Ideale geklärt werden. Im Drama heißt diese Kraft »Held«. Dass die Arbeit des Helden mit niemals endenden Mühen verbunden ist, die nur auf sich nimmt, wer mit Ideen gewappnet ist, fasst Felix Bartels in einen Satz von großer Weisheit: »Was der Held herstellt, ist Ordnung, und Ordnung bleibt nur, solange sie hergestellt wird.« Wie die Ordnung aussehen soll, das wissen kluge Linke. Dass es, sie fortwährend einzurichten, außerordentlicher »Helden« bedarf, wollen die meisten nicht wahrhaben. Hacks glaubte das.
Ach! die Republik, der Staat der Meisten,
Ist, bei aller Tugend, hochgebrechlich.
Dauernd kommen welche, die was leisten
Und daraus ein Vorrecht ziehn. Tatsächlich
Ist die Furcht, daß Könige entständen,
Nur in Monarchien abzuwenden.
Peter Hacks
Aus: Werke in 15 Bänden, Band 1 © Eulenspiegel Verlag, Berlin 2003
Felix Bartels: Leistung und Demokratie. Genie und Gesellschaft im Werk von Peter Hacks. VAT Verlag André Thiele, 190 S., brosch., 12,90 €.
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