Rio de Janeiro im Ausnahmezustand
Brasilien: Polizei stürmt Armenviertel – Hintergrund sind bevorstehende Sportereignisse
Brasilianische Sicherheitskräfte haben am Sonntag ein Armenviertel in Rio de Janeiro unter ihre Kontrolle gebracht, in dem sich angeblich bis zu 600 Drogenhändler verschanzt hielten. Wie es hieß, seien 40 Tonnen Marihuana sichergestellt worden.
In Rio de Janeiro herrscht Ausnahmezustand. Nachdem mutmaßliche Mitglieder von Drogenbanden zu Beginn vergangener Woche Busse und Autos im gesamten Stadtgebiet anzündeten, reagierte die Polizei mit einer Großoffensive. Am vergangenen Donnerstag stürmte sie mit Hilfe von Panzern die Favela Vila Cruzeiro, eine angeblich uneinnehmbare Hochburg der Drogenhändler. Fernsehbilder zeigten, wie über Hundert mit Gewehren bewaffnete Männer über einen unbewohnten Hügel in das benachbarte Favelagebiet Complexo do Alemao flüchteten. Das gesamte Gebiet, in dem mehrere hunderttausend Menschen wohnen, wurde am Samstag umstellt. Einen Tag später rückten Sicherheitskräfte in Alemao ein.
Zuvor hatte Präsident Inácio Lula da Silva die Entsendung von 800 Soldaten und schwerem Gerät bewilligt, um die der Gouverneur von Rio de Janeiro, Sergio Cabral, gebeten hatte. Dieser kündigte an, »das Territorium des Drogenhandels« werde der organisierten Kriminalität entrissen. »Wir werden die Armenviertel befrieden,« so Cabral.
Fraglos sind die Drogenbanden, die seit Jahren einen großen Teil der Favelas von Rio de Janeiro mit Gewalt, Willkür und Lynchjustiz kontrollieren, ein gravierendes Problem. In Fraktionen gespalten, liefern sie sich immer wieder regelrechte Kriege um das jeweilige Territorium und machen gute Geschäft mit dem Verkauf von Drogen. Auch wenn sie teilweise in eigene soziale Projekte investieren und von einigen gern als Gegenpol der armen und ausgeschlossenen Bevölkerung gegen rassistische Polizeigewalt gesehen werden, handelt es sich doch um machistische, gewalttätige Gruppen. Sie nutzen das Fehlen staatlicher Präsenz – von Ordnungskräften als auch von sozialer oder urbaner Infrastruktur –, um in der jeweiligen Region ein eigenes Regime zu etablieren und jegliche Form sozialer Organisation zu unterbinden.
Die Polizei, die jetzt so öffentlichkeitswirksam das Verbrechen bekämpft, und teilweise auch der Staatsapparat und korrupte Politiker sind alles andere als unschuldig an der Situation. Es ist ein offenes Geheimnis, dass viele Einheiten insbesondere der im Stadtgebiet omnipräsenten Militärpolizei mit dem Drogenhandel unter einer Decke stecken. Sie erlauben den Drogenverkauf und streichen den Hauptteil der Einnahmen ein. Wenn wieder eine Favela gestürmt und mehrere »Banditen« oder als solche bezeichnete Zivilisten »in Notwehr« erschossen wurden, war die Ursache oft der Versuch, einer anderen, zahlungswilligeren Fraktion das Feld zu überlassen. Die Polizei ist es auch, die oftmals für den Waffenhandel verantwortlich ist, durch den der Konflikt derart eskalieren konnte. Zumal: Je besser bewaffnet der Feind, desto mehr Geld für die Polizei.
»Waffen werden nicht in Favelas hergestellt, sie kommen irgendwo her. Wann ist die Polizei gegen den Waffenhandel vorgegangen, wann gab es eine Razzia im Hafen?«, fragte der Landtagsabgeordnete Marcelo Freixo in einem Interview Ende vergangener Woche. Freixo wurde bekannt als Initiator einer Untersuchungskommission zu Milizen, die den Drogenbanden die Macht in den Favelas streitig machen. »In den Favelas machen bewaffnete Menschen nicht einmal ein Prozent der Bevölkerung aus. Ich wünschte, im Parlament hätten weniger als ein Prozent der Abgeordneten Verbindungen zum Verbrechen«, erklärte der Menschenrechtsaktivist Freixo.
Vor gut einem Jahr begann die Verwaltung von Cabral damit, einige Favelas in den besseren Vierteln zu besetzen und sogenannte Befriedende Polizeieinheiten (UPP) einzurichten. Nicht der erste Versuch dieser Art, doch bislang recht erfolgreich. Trotz Klagen, dass die Polizisten nach wie vor respektlos oder gewaltsam mit den Bewohnern umgehen und dass der Staat nicht mit sozialen Einrichtung Präsenz zeigt, ist davon auszugehen, dass die Mehrheit der Bevölkerung das Ende der Bandenregime eindeutig begrüßt.
Die Frage, warum plötzlich Stadtteile erobert werden konnten, die jahrzehntelang den bewaffneten Banden nicht zu entreißen waren, lässt sich nur mit der bevorstehenden Ereignissen erklären: Bislang war es ein gutes Geschäft, den schlecht bezahlten Polizisten das Kungeln mit dem organisierten Verbrechen zu gestatten. Doch jetzt stehen die Fußball-WM 2014 und die Olympischen Spiele 2016 ins Haus. Nun wird deutlich, dass die Drogenhändler doch nicht so allmächtig sind, wie die Medien gerne suggerieren. Marcelo Freixo interpretiert das Vorgehen in folgendem Kontext: »Die UPP's sind ein Projekt zur militärischen Rückeroberung einiger Gebiete, die für die Stadt von zentralen Bedeutung sind.« Es gehe nicht darum, den Drogenhandel zu beenden, »es geht um die militärische Kontrolle von Vierteln, die wichtig für die Olympische Spiele sind.«
Es ist auch zu bezweifeln, dass der Sturm auf die Favelas Vila Cruzeiro und Complexo do Alemao zur Einführung rechtsstaatlicher Zustände führen wird. Offenbar ist es einfacher und effektiver, die Kontrolle dieser Gebiete den Milizen zu überlassen. Sie entstanden in Rio de Janeiro vor einigen Jahren im Vorfeld der Panamerikanischen Spiele, Menschenrechtlern zufolge auf Initiative des damaligen Bürgermeisters Cesar Maia. Diese paramilitärischen Gruppen, die zumeist aus ehemaligen und aktiven Polizisten und Feuerwehrleuten bestehen, erobern einen von Drogenbanden kontrollierten Stadtteil und führen ein Mafiasystem ein, das seine Einnahmen vor allem aus dem öffentlichen Transport, Kabelfernsehen, Gasverkauf und Schutzgelderpressung gewinnt.
»Die Zahl der von Milizen kontrollierten Territorien ist heute bereits größer als die der von Drogenhändlern dominierten«, erklärt der Abgeordnete Freixo und kritisiert, dass die Regierung Cabral viel Brimborium um die Drogenbanden macht, sich aber nicht dem Milizproblem zuwendet: »Mich wundert das Schweigen dieser Regierung in Bezug auf die Milizen, obwohl behauptet wird, dass Rio befriedet wird.«
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