Stille Post nach Washington
Klatsch, Tratsch und manch fieses Geheimnis – Murphys Sittengemälde deutscher Politik
Am 13. Juli 1870 erhielt ein Vorgänger der heutigen Kanzlerin ein Telegramm. Der Empfänger – Otto von Bismarck – bastelte aus der Emser Depesche eine Presseerklärung. Eine knappe Woche später erklärte Frankreich Preußen den Krieg. Das kann passieren, wenn das, was geheim bleiben soll, öffentlich wird.
Doch die Zeiten, in denen man den »Austausch« von diplomatischen Noten so auf die Spitze trieb, sind vorbei. Die Auswirkungen der aktuellen Wikileaks-Veröffentlichungen auf das Verhältnis zwischen den USA und Deutschland sind »vernachlässigenswert«. Heißt es, denn es gebe eine tiefe Freundschaft zwischen beiden Staaten, die auf gemeinsamen Werten beruhe, ließ Kanzlerin Merkel ihren Sprecher Seibert erklären.
Dennoch ist die Aufregung groß. Referenten in Parlament und Parteizentralen werden getrieben, in den hunderttausenden Internet- Dokumenten nach Spuren zu suchen, die Politiker aller im Bundestag vertretenen Parteien bei Gesprächen in der US-Botschaft oder mit deren Beschäftigten hinterlassen haben könnten. Und noch ist nicht sicher, dass es nur bei den Freien Demokraten so einen jungen schwatzhaften Protokollanten gibt, der Parteiinterna brühwarm in die US-Botschaft durchreicht.
Die meisten der veröffentlichten Dokumente befassen sich mit Alltäglichem, das man hierzulande in jeder Zeitung lesen kann. Dem Berliner US-Botschaften Philip Murphy ist zuzustimmen. Die Depeschen, so sagte er dem »Spiegel«, sind in den meisten Fällen »Momentaufnahmen, Puzzleteile, eine Szene aus einem Film. Wir versuchen aus diesen Einzelteilen ein größeres Bild zusammenzusetzen.«
Selbst wenn es in den Dossiers um Persönliches geht, ist viel Aufregung herbeigeredet. Die Kanzlerin und CDU-Chefin kommt relativ gut weg: »Merkel ist methodisch, rational und pragmatisch.« Oder: »Wenn sie in die Enge getrieben wird, ist sie hartnäckig, aber sie meidet das Risiko und ist selten kreativ.« Ja und? Stimmt doch! Auch die folgende Einschätzung ist nicht falsch: »Wir sollten ihr Bestreben, ein politisches Vermächtnis zu hinterlassen, nicht unterschätzen. Ihre Dominanz wird wahrscheinlich zum Vorteil von US-Interessen ausfallen.«
Guido Westerwelle, Vizekanzler, Außenminister und FDP-Vorsitzender, mag weniger beglückt sein: »Er wird, wenn er direkt herausgefordert wird, vor allem von politischen Schwergewichten, aggressiv und äußert sich abfällig über die Meinung anderer Leute.« Er hat »ganz klar ein zwiespältiges Verhältnis zu den USA«. Bereits vor seiner Wahl als Koalitionspartner der Union hatten die USA den Verdacht: »Wird er Außenminister, besteht die Möglichkeit eines größeren Zerwürfnisses zwischen dem Kanzleramt und dem Auswärtigen Amt.« Und so kam es. »He's no Genscher«, fasst Murphy enttäuscht zusammen und hat recht damit. Weshalb die USA auch lieber mit dem außenpolitischen Berater Merkels im Kanzleramt Kontakt halten. In der Tat versteht besagter Christoph Heusgen wesentlich mehr von Außen- und transatlantischer Politik als Westerwelle je aufnehmen kann.
Horst Seehofer, der CSU-Chef und Ministerpräsident Bayerns, ist ein »unberechenbarer Politiker«, Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU), ein »außenpolitischer Experte, Transatlantiker und ein enger und bekannter Freund der USA«. Wolfgang Schäuble (CDU) – 2008 noch Bundesinnenminister – setzt sich wie »kein anderer deutscher Offizieller ... derart intensiv und öffentlich für eine engere bilaterale Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen ein«. Sein Nachfolger im Innenministerium, Parteifreund Thomas de Maizière, hat – in dieser Frage – zumindest nach Washingtoner Wünschen noch eine »steile Lernkurve vor sich«. Dass die USA mehr über den einstigen Kanzleramtschef (und damit Geheimdienstboss) und späteren Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) wissen, als dessen Genossin Andrea Nahles, stimmt ebenso wie die Einschätzung, dass Steinmeier »mehr Technokrat als Politiker« ist. Renate Künast wird es nicht freuen, dass sie »nicht als bedeutende Persönlichkeit angesehen« wurde. Oskar Lafontaine fühlt sich bestimmt geschmeichelt, dass er als »mysteriöse rote Sphinx« wahrgenommen ist. Dafür wird er nicht ganz so genüsslich lesen, dass sein Freund Gregor Gysi im November 2009 gegenüber dem US-Botschafter erklärt haben soll, »er allein« sei dafür verantwortlich gewesen, »die Linke als nationale Kraft aufzubauen«.
Klatsch? Tratsch? Jedenfalls ist das alles nicht so wichtig, wie es von Medien genommen wird. Interessanter kann es sein, wenn man die US-Papiere zum Gegencheck für offizielle deutsche Politik benutzt. Dann, wenn die Personen mit den gängigen Namen in den Hintergrund treten und die eigentlichen Macher das Sagen haben.
Bleiben wir bei dem bereits erwähnten »Chancellery National Security Advisor Christoph Heusgen«. Im schwarz-gelben Koalitionsvertrag steht, dass sich die Regierung bemüht, die US-Atomwaffen von deutschem Boden abziehen zu lassen. Das lobenswerte Ziel hat die FDP in den Vertrag geschrieben und Außenminister Westerwelle versuchte, damit national wie international zu punkten. Dabei hatte er die Mehrheit der deutschen Bevölkerung hinter sich, doch ein Erfolg blieb ihm versagt. Warum? Ende 2009 erklärte Merkels Berater Heusgen gegenüber einem Mitarbeiter der US-Botschaft (laut dessen Niederschrift), dass es »keinen Sinn« mache, »einseitig die ›20‹ noch in Deutschland befindlichen Nuklearwaffen abzuziehen, während Russland ›Tausende‹ habe«.
Nicht gerade von Koalitionsgeschlossenheit zeugt es auch, wenn Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg seinen Außenamtskollegen Westerwelle bei den Amis wegen dessen Zurückhaltung beim Soldatenexport nach Afghanistan anschwärzt. Das war am 3. Februar 2010 kurz nach der Londoner Konferenz. Der Freiherr lobte sich dabei, dass er gegen den Wunsch Westerwelles noch 850 Soldaten drauflegen konnte. Die FDP-Verteidigungsexpertin Elke Hoff wiederum erläuterte, wieso Deutschland nicht mehr Soldaten an den Hindukusch geschickt hat. Schuld sei zu Guttenberg. Der hätte eine höhere Truppenobergrenze erzielen können, wenn er die Parlamentarier zuerst eingeweiht und einen »größeren Respekt für den politischen Arbeitsablauf« gezeigt hätte. So wird um Menschen, deren Leben oder deren Tod gefeilscht.
Ähnlich Entlarvendes zur Verlogenheit von Politik und Politikern kann man unter dem Stichwort Opel nachlesen. Auch das EU-weite Gerangel um das Swift-Abkommen zur Bankdatenweitergabe an die USA wird transparenter. Gleiches betrifft einige Bereiche des sogenannten gemeinsamen Anti-Terror-Kampfes und den »Guantanamo-Basar« zur Aufnahme unschuldiger Häftlinge.
2009 hatte der heutige Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) die Wahl seines Vorgängers zu Guttenberg in das Amt so kommentiert: Die CSU sei offenbar schon froh, wenn sie jemanden aufbieten könne, »der lesen und schreiben kann«. Nun konnte Brüderle dieses Zitat bei Wikileaks lesen. Er hat jetzt verstanden, »dass man kaum noch Gespräche führen kann, die nicht öffentlich werden. Man kann damit leben. Man muss es nur wissen.«
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