Wieder bei null anfangen
Der französische Philosoph Alain Badiou möchte die Idee des Kommunismus neu beleben
ND: Sie versuchen sich an einer Sache, die viele für verstaubt halten – Sie wollen die Idee des Kommunismus neu beleben. Warum?
Badiou: Angesichts der Verwerfungen in unseren kapitalistischen Gesellschaften ist es wichtig, darüber zu diskutieren. Sicher ist es eine komplexe Angelegenheit, aber wir müssen schauen, wie wir die Idee des Kommunismus neu bestimmen können. Sie handelt davon, dass und wie emanzipatorische Politik möglich ist. Die Idee des Kommunismus macht Menschen zu politischen Subjekten, denen die Emanzipation der Menschheit als Ganzes wichtig ist. Es gibt junge Leute, die sich für diese universelle Orientierung interessieren. Das erleben wir auf unseren Konferenzen. In London, wo wir im letzten Jahr anfingen, haben wir uns zunächst auf einen sehr kleinen Saal beschränken wollen. Wir mussten in einen wesentlich größeren wechseln, weil viel mehr Menschen kamen, als wir erwartet hatten.
In Berlin waren es im Juni rund Tausend Leute. Wie erklären Sie sich dieses Interesse?
Um uns herum gibt es eine zunehmende Orientierungslosigkeit. Die Kommunistischen Parteien, nicht nur in Frankreich, diskutieren darüber, dass sie das Wort Kommunismus aufgeben wollen. In Italien hat man es bereits getan. In Mittel- und Osteuropa schwindet der Unterschied zwischen den früheren kommunistischen und den heutigen sozialdemokratischen Parteien. Man sieht die Kompromittierung durch die Regimes Osteuropas, aber man hat die eigenen Visionen nicht erneuert. Man ist blockiert in einer Tradition, die heute nur noch schwer zu rechtfertigen ist.
Das sind nicht gerade Belege für ein Interesse am Kommunismus.
Aber in der Jugend wird nach Antworten gesucht. Was ich vorschlage, ist, dass wir wieder bei Null beginnen, dass wir bilanzieren, wem was geschehen ist. Wir müssen akzeptieren, dass wir aus der Welt, wie sie ist, nicht hinaus können. Mir geht es um eine politische und theoretische Debatte mit der Jugend als Adressaten, um etwas Neues zu entwickeln. In den 30er und 40er Jahren übten die kommunistischen Parteien und Bewegungen einen intellektuellen Reiz aus, sie waren etwas Neues. Das ist heute nicht mehr der Fall. Aber das heißt nicht, dass die Idee des Kommunismus keinen Reiz mehr ausübt, man sieht die Antworten und Lösungen allerdings nicht in den alten Parteien.
Ist es nicht ein leichtfertiger Gedanke, neu bei Null zu beginnen, oder wie Sie andernorts sagten: mit dem Denken vor Lenin neu anzufangen? Sie wischen damit die konkreten Erfahrungen mit kommunistischer Politik beiseite.
Nein, ganz im Gegenteil. Ich nehme die Tatsache sehr ernst, dass die Hoffnung, die es in der Vergangenheit gab, so nicht weiter trägt. Wenn ich sage, wir sind eher vor als nach Lenin, meine ich damit, dass die Leninschen Lösungen nicht unsere sein können. Das Scheitern und die Verbrechen, die im Namen des Kommunismus begangen wurden, berühren mich sehr. Ich bin an die kommunistische Idee gebunden, sie ist mir teuer. Historisch haben wir jedoch erfahren müssen: Die Probleme, die die Idee des Kommunismus aufwirft, sind nicht gelöst. Lenin organisierte einen Aufstand und er blieb siegreich. Aus diesem Grund waren die Leute begeistert. Aber Lenins Sieg hatte einen enormen Preis. Daran können wir also nicht anknüpfen, wir müssen uns den Voraussetzungen neu zuwenden.
Wollen Sie eine neue Partei?
Das System der politischen Partei im Leninschen Sinne müssen wir aufgeben. Es war ein Apparat, der für die Rebellion entwickelt wurde, für die Revolte, den Aufstand, für den Sieg. Und weil die Partei für den Bürgerkrieg gebaut war, konnte der Parteiapparat auch eine Stalinsche Gewalt hervorbringen. Die schreckliche Zeit des Bürgerkrieges hatte die Angewohnheit mit sich gebracht, Probleme durch Gewalt zu lösen. Diese Form der militärischen Organisation kann nicht unsere sein.
Welche dann?
Wir müssen auf eine alte Idee von Marx zurückkommen. Marx sagte, dass die wahre Organisation international sein muss. Die Partei aber ist zunächst keine internationale, sie richtet sich auf den Staat. Deswegen ist zu Stalins Zeit die Partei auch zu einem Instrument der sowjetischen Politik geworden, sie war wesentlich stärker auf das Landesinnere gerichtet als auf die internationale Ebene. Die Idee des Kommunismus funktioniert jedoch nicht im nationalen Rahmen.
Sehen Sie sich als Bauherr dieser internationalen Organisation?
Dafür bin ich ein bisschen zu alt, das müssen die Jungen bewegen. Ich reise herum und diskutiere über drei Ideen: Die erste, das ist der negative Ansatz, wir können die traditionelle Form der Partei nicht wieder aufgreifen. Die zweite: Der Rahmen der Organisation muss ein direkt internationaler sein. Es wird nicht funktionieren, dass man viele nationale Organisationen nur international koordiniert. Und drittens muss es eine neue Darstellung der Idee des Kommunismus geben. Nicht mehr diese Idee der zwei Phasen, erst der Sozialismus, dann der Kommunismus. Diese Ideen müssen wir grundsätzlich wandeln.
Sie sprechen davon, dass Kommunisten sich als Agenten der historischen Emanzipation begreifen müssen. Liegt darin nicht weiter ein Avantgardeanspruch?
Nein. Die Idee der Avantgarde war an den Klassengedanken und die Partei als Vertreterin des Proletariats gebunden. Es gab also zugleich zwei Avantgarden: die Klasse und die Partei. Wenn ich an eine direkt internationale Organisation denke, meine ich eine offene Organisation. Das einzige Kriterium, das es gibt, ist die Idee des Kommunismus. Menschen kommen auf internationaler Ebene zusammen, um unterschiedliche Erfahrungen zu kommunizieren und zu überlegen, was getan werden kann. Es ist ein multiples und föderales Modell, kein zentralistisches. In einem zentralisierten System gibt es die Anweisungen von oben, das ist nicht das, was wir brauchen. Was wir heute machen können, ist erstens, die Diskussion über die Ideologie und die Theorie auf globaler Ebene zu initiieren. Und zweitens: auf unterschiedlicher, lokaler Ebene zu agieren, ebenfalls mit globaler Perspektive und mit der globalen Dimension. Man muss so viele Leute wie möglich zusammenbekommen, die denken, dass man eine andere Gesellschaft entwickeln kann.
Viel theoretisches Rüstzeug liegt dafür noch nicht bereit.
Zugegeben, wir haben bislang nur wenige konstitutive Ideen. Marx war der Überzeugung, dass der Kapitalismus sich an seinen eigenen Widersprüchen auflöst und die Geschichte selbst zum Kommunismus führt. Das ist, so glaube ich, nicht der Fall. Wir geben also nicht nur die leninistische Partei auf, wir geben auch den historischen Determinismus von Marx auf. Der Kapitalismus wird wohl noch recht lange bestehen.
Das klingt wenig optimistisch. Sie bezeichnen den Spätkapitalismus als eine Art liberalen Faschismus. Was meinen Sie damit?
Es geht um den autoritären Liberalismus in Europa. Berlusconi in Italien und Sarkozy in Frankreich sind mehrdeutige Figuren. In der Wirtschaftspolitik handeln sie enorm liberal, andererseits sind sie Sicherheitsfanatiker. Auf der sozialen Ebene und mit Blick auf die demokratischen Rechte erleben wir eine zunehmend autoritäre Politik. Wenn ich vom liberalen Faschismus spreche, ist das als Bild gemeint: Es gibt keinen Widerspruch zwischen der reaktionären Sicherheitspolitik und dem Wirtschaftsliberalismus, sie sind zwei Seiten ein und derselben Politik, von der die identitaristischen, also die nationalistischen Kräfte und die Rechtsextremisten profitieren.
Wie bewerten Sie die Bemühungen in Frankreich oder in Deutschland, die zersplitterte Linke außerhalb der Sozialdemokratie in neuen Linksparteien zusammenzubringen?
Ich beobachte das mit Interesse. Aber diese Organisationen sind viel zu sehr in das übliche Spiel des Staates eingebunden. Ihre Vision besteht hauptsächlich darin, gute Wahlresulate zu erreichen. Das ist gewiss nützlich, kurzfristig gesehen, man muss auch defensiv sein. Aber es ist nicht das, was ich mir unter einem wirklich neuen Projekt vorstelle. Vor etlichen Jahren war die gewöhnliche Linke noch ein bisschen antikapitalistisch, aber das hat sich verflüchtigt. Die Sozialistische Partei in Frankreich erinnert mehr und mehr an die US-amerikanischen Demokraten, sie will die Gesellschaft nicht mehr grundlegend ändern. Auch die Ideen der anderen Organisationen sind eher traditionell. Wir brauchen eine Linke der Linken.
Hoffen Sie dennoch, dass sich in diesen Organisationen an der Debatte über ihre Idee beteiligt wird?
Die Frage wird lauten: Wer interessiert sich tatsächlich für Veränderungen? Bislang gibt es darauf keine Antwort, man diskutiert nur Worte.
Machen Sie einen Unterschied zwischen der kommunistischen und der sozialistischen Idee?
Es ist schwierig geworden, den Begriff Sozialismus zu benutzen. Das liegt an jenen, die sich Sozialisten nennen, aber das Minimum des Sozialismus aufgegeben haben. Vielleicht setzt eine neue Generation die Frage wieder neu auf die Tagesordnung und diskutiert, wie man das besser nennen sollte, ob Sozialismus, ob Kommunismus. Ich halte den Begriff des Kommunismus für besser, er handelt von der Gesellschaft und von der Gemeinschaft. Er bedeutet mehr, er ist provokanter.
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