Die ganze Welt als Bibliothek

Bookcrossing hat sich durch das Internet zur größten globalen Buchtauschbörse entwickelt

  • Aert van Riel
  • Lesedauer: 6 Min.

Es ist spät abends in Berlin-Wedding. Auf einer Parkbank liegt ein verwaistes Buch. Ein junger Mann nähert sich und steckt es schnell in seine Tasche. Noch heute, fünf Jahre später, leuchten seine Augen, wenn er von seinem Erlebnis erzählt. »Seitdem ich damals das dünne Büchlein von Dostojewski gefunden habe, hat mich das Jagdfieber nach versteckten Büchern gepackt«, erinnert er sich.

Das Buch war kein Zufallsfund. Denn zurzeit kursieren weltweit mehrere Millionen Werke, die, nachdem sie gelesen wurden, einfach an irgendeinem Ort liegen gelassen werden. Das System des geheimnisvollen Büchertausches heißt Bookcrossing. Eine meist ungenaue Beschreibung, wo die Bücher hinterlassen wurden (zum Beispiel »in der Innenstadt« oder in einem Bahnhof) und welchen Weg sie hinter sich haben, erfährt man auf der Internetseite des Netzwerks bookcrossing.com.

»Bookcrossing übt auf viele Menschen eine enorme Faszination aus, weil dadurch die ganze Welt zu einer großen Bibliothek wird«, sagt eine junge Frau, die zum Treffen der Berliner Bookcrosser in ein Lokal im zentral gelegenen Ortsteil Moabit gekommen ist. Außerdem kämen zahlreiche alte Bücher, die ansonsten in Regalen verstauben würden, dadurch wieder in Benutzung.

Der Büchertausch könne aber auch praktische Gründe haben. So sei sie schnell und umsonst an Bücher gekommen, die sie für ihre Ausbildung benötigte, erklärt die Frau. Auf Anfrage im Internet hin hätten Bücherfreunde ihr die Werke einfach zugeschickt. Dieses »Weitergeben« sei eine Alternative zum, wie es im Szene-Jargon heißt, »Freilassen« der Bücher.

Die Treffen der Bookcrosser werden über Foren im Internet geplant. Auf ihrer Webseite haben die Leser auch die Chance regelmäßiger Kommunikation. Büchertipps werden ausgetauscht und über Werke, die sich auf Reisen befinden, kann jeder Bookcrosser einen Kommentar hinterlassen. Die Inhalte viel gelesener Bücher werden teilweise heftig debattiert.

Seit Anfang des Jahres 2008 treffen sich die Berliner Bookcrosser meist einmal im Monat an einem Freitagabend. In dem Café dudelt Popmusik dezent im Hintergrund, das Rauchen ist hier verboten. Die Teilnehmer sind eine bunt gemischte Gruppe: Meist Frauen unterschiedlichen Alters, aber auch einige Männer. Sie kommen aus allen Berliner Bezirken. Der wachsende Bücherklub steht jedem offen.

Auf einem großen Tisch liegen mehrere Bücherstapel, die so hoch sind, dass sie jeden Moment umzufallen drohen: Romane, Lexika und Kriminalgeschichten. Auch ältere Exemplare sind in einem guten Zustand. Die Stapel werden hin- und hergeschoben. Bookcrosser blättern kurz in den Büchern herum, legen sie wieder zurück oder behalten sie. Das Treffen ist gut besucht. Die rund 20 Teilnehmer sitzen eng nebeneinander um den Tisch. Viele haben sich beim Chatten im World Wide Web kennengelernt und sprechen sich mit ihren Internet-Pseudonymen an.

Ein Mann verrät, dass er nicht nur zu den Treffen komme, um Bücher zu tauschen. Es gehe ihm vor allem darum, neue Leute mit ähnlichen Interessen kennenzulernen. Im Unterschied zu anderen Internetgemeinschaften lobt er vor allem den angenehmen und freundlichen Umgang zwischen den Bücherfreunden: »Die Bookcrosser waren mir deswegen von Anfang an sympathisch.« Viele der Anwesenden sind erst seit wenigen Monaten im Büchertausch aktiv. Kein Wunder, denn Bookcrossing ist eine junge Bewegung. Die ersten Netzwerke wurden im Jahr 2001 in den USA gegründet. Seitdem entstand eine globale Bewegung mit mehr als 890 000 Sympathisanten. Die Bücher werden auch über Landesgrenzen hinweg getauscht. Auf seine Urlaubsreisen würde er möglichst viele Bücher mitnehmen, um sie in anderen Ländern zu hinterlassen, erzählt ein Bookcrosser.

Am weitesten gereist ist eine Ausgabe von »Der seltsame Bücherfreund« mit Karikaturen von Gerard Hoffnung aus dem Jahre 1971. Diese haben seit August 2003 schon beachtliche 544 Bookcrosser aus mehreren Ländern gefunden, gelesen und wieder »freigelassen«.

Der Beginn der großen Büchertausch-Bewegung fällt nicht zufällig mit der weiten Verbreitung des Internets zusammen. Auch Bookcrossing setzt die Idee, in einer global vernetzten Welt möglichst viele Informationen für alle Menschen, die online sind, kostenfrei öffentlich zu machen, um.

´Werden also nach den bisherigen Leidtragenden der freien Downloads und Nachrichten, wie Musiklabels und Printmedien künftig auch Schriftsteller, Verlage sowie der Bücherhandel wegen der boomenden Bookcrossing-Bewegung finanzielle Einbußen hinnehmen müssen?

Ein Teilnehmer des Berliner Bookcrossing-Treffens verneint dies vehement. Er müsse zwar im Schichtdienst arbeiten und habe deswegen wenig Freizeit. Aber seit er begeisterter Bookcrosser sei, würde er nicht nur mehr lesen als früher, mindestens ein Buch im Monat, sondern auch zunehmend Bücher kaufen. Durch Bookcrossing habe er seine Leidenschaft für historische Romane mit Bezug zur Heimatstadt Berlin, insbesondere für Werke des Jugendbuchautors Klaus Kordon, wiederentdeckt.

Seine Tischnachbarin gibt ihm recht. »Durch Bookcrossing gewinnen Bücher für zahlreiche Menschen einen neuen Reiz. Eine bessere Werbung können sich die Verleger und Autoren doch gar nicht wünschen«, meint sie.

Reizvoll ist dabei einerseits das Suchen nach Büchern, aber auch das Verstecken. Am liebsten lasse sie ihre Bücher einfach in der S-Bahn liegen und beobachte dann, wie die Mitfahrer reagierten, erzählt die Initiatorin des Berliner Treffens. Weil ansonsten schnell gefragt würde, ob sie nicht etwas vergessen habe, müsse sie sehr unauffällig vorgehen. »Das ist unheimlich aufregend.« Ein großer Aufkleber auf den Büchern mit der Aufschrift »Bookcrossing – Nimm mich mit!« zeigt, dass sie zur freien Verfügung stehen. Trotzdem würde sie bei vielen Büchern schon bald die Spur verlieren.

Für jene, denen das Risiko, dass die ausgesetzten Werke letztlich auf der Müllkippe landen, zu hoch ist, gibt es auch andere Varianten des Büchertauschs. In Deutschland wurden hierfür im Jahr 2003 offizielle »Bookcrossing Zonen« meist in Restaurants oder Cafés eingerichtet.

Zudem gibt es bereits seit Ende der 1990er Jahre in einigen Städten sogenannte öffentliche Bücherschränke. Beispielsweise alte Telefonzellen, seit der weiten Verbreitung von Mobiltelefonen immer weniger benutzt, werden zu öffentlichen Büchertauschbörsen umgestaltet. Eine mit bunten Graffiti besprühte Buchtausch-Telefonzelle erfreut sich bereits am Rüdesheimer Platz im Berliner Bezirk Wilmersdorf großer Beliebtheit. Der Umbau der Telefonzelle wurde im Rahmen des Sozialprojekts »Bücherboxx«, an dem auch Jugendliche beteiligt waren, gestaltet.

Das wohl ungewöhnlichste Bücherregal befindet sich im vor allem bei jungen Familien beliebten Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg. Seit Juni 2008 stehen hier fünf ausgehöhlte Baumstämme an der Sredzkistraße direkt neben einem gediegenen Café im Kreis zusammen. Der »Bücherwald« wurde von angehenden Förstern, Tischlern, Buchhändlern und Medientechnikern geschaffen.

Im Innern der Bäume sind Fächer eingebaut, in die Passanten ihre Bücher hinterlegen. Plastikklappen schützen sie vor der Witterung. Meist sind hier offenbar nicht mehr benötigte Unilehrbücher zu finden. Einige der 15 Regalfächer sind sogar leer. Er selbst habe zwar viele Bekannte, die Bücherregale und »Bookcrossing Zonen« nutzten, sagt ein Szenekundiger. Diese seien aber nichts für ihn. »Denn Bücherverstecke ausfindig zu machen – das ist beim Bookcrossing der entscheidende Nervenkitzel.«

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