Hoffnung schafft Narren. Schön

Regisseur Stephan Kimmig:

  • Lesedauer: 9 Min.
Stephan Kimmig, geb. 1959 in Stuttgart, ist ein Prägender seiner Spielleiter-Generation. Derzeit hat seine Gorki-Inszenierung »Kinder der Sonne« (mit Nina Hoss, Ulrich Matthes) hauptstädtischen Kultcharakter – am Deutschen Theater, wo er Hausregisseur ist. Zahlreiche Preise. Arbeit am Wiener Burgtheater, am Hamburger Thalia, an der Bayerischen Staatsoper. Über sein grandioses »Goldenes Vlies« an der Burg schrieb ND: »Ein Thriller. Schnell, schnörkellos, spannend. Grillparzer in eine Heutigkeit gebracht, die in ihrer niederschmetternden Flachheit und Grausamkeit den Kern der Tragödie trifft. Der Mythos: verhärmt zum pragmatischen Mittelstand, der unser Gesicht hat.« Auf dem Weg zu solchen Wahrheiten betreten Kimmigs Schauspieler die Bühne wie (leise) Raubtiere, die noch im Käfig der inszenierten Verabredungen plötzlich Wildheit und Freiheit offenbaren ...

ND: Stephan Kimmig, von Federico Fellini und auch von Woody Allen stammt die Selbsteinschätzung, sie würden im Prinzip stets den gleichen Film drehen. Da war mal ein erzählerischer Anfang, aber es gibt kein Ende, es geht nur immer weiter, von Film zu Film, die ewig gleiche Geschichte.
Kimmig: Das kann ich so nicht sagen. Aber ich bin ja auch nicht einer dieser Großen, die Sie nannten.

Sie sind eher Jürgen Klopp, wie Sie im DT-Magazin mitteilten. Der Trainer von Borussia Dortmund.
Das habe nicht ich behauptet. In dem Interview wurde lediglich zitiert, wie mal ein anderer über mich geurteilt hat.

Wieso Klopp?
Was soll ich jetzt sagen, ohne anmaßend zu wirken?

Dann sag ich's. Ich vermute, es geht um den nicht sehr hierarchiesüchtigen Eindruck, den Sie machen. Autorität, die sich herstellt, ohne autoritär sein zu müssen. Natürliche Nähe zu Spielern.
Was mich am Theater immer entsetzt hat, ist der Widerspruch zwischen dem »Guten, Wahren und Schönen«, das auf der Bühne verhandelt wird, und den verletzenden Kämpfen hinter den Kulissen. Diese mitunter entwürdigende Behandlung von Schauspielern und Mitarbeitern – und dann noch unter dem Etikett, es gehe um die Suche nach der besten künstlerischen Lösung. Ich will diese Erniedrigungs-/Zerstörungslust und die Deformationen, die wir uns zufügen, nicht verstehen. Ich habe lange in den Niederlanden gearbeitet, dort wäre nicht möglich, was sich Regisseure an deutschen Stadttheatern teilweise leisten dürfen. Als Schauspieler würde ich bei solcher Erfahrung rausrennen. Ich hasse Willkür im Umgang mit Menschen, ich hasse das egoistische Ausnutzen einer Führungsposition. Ein Mitarbeiter mag das Recht haben aufzuschreien, ein Leiter hat es erst nach reiflicher Überlegung. Ist die Überlegung wirklich reiflich, unterlässt er das Schreien.

Sie haben als Regisseur Macht.
Ich habe die Pflicht für den Überblick, ich habe fürs möglichst produktive Arbeitsklima zu sorgen, und produktiv heißt: alles dafür zu tun, dass Schauspieler ganz bei sich sind und kühn sein können für einen Ausdruck, der vielleicht gestern noch nicht absehbar war. Ob Regisseur, ob Trainer, ob Chefredakteur oder Dirigent: Es geht um Anregung, um Ideen, ums Lustmachen auf Arbeit.

Das klingt, als wollten Sie sagen: Reden wir über alles, aber nicht über Macht.
Genau.

Eigentlich bin ich nach wie vor bei meiner Ausgangsfrage: Worin sind Sie, unabhängig davon, was Sie inszenieren, doch ein Wiederholungstäter?
Vielleicht ist es ein einziger Moment, der mich in jeder Arbeit besonders bewegt: der Moment. Also der Moment an sich. Also nicht die große Veränderungsstrecke, nicht der große Entwurf, nicht der große Bogen, nein, der einzelne Augenblick zwischen Menschen. Der Schicksalswimpernschlag zwischen Jetzt und Jetzt. Die Spanne Zeit, die wir gewöhnlich gering schätzen, die bewusst zu leben aber mehr Kraft fordert als jeder Hang zum Großen und Ganzen.

Klingt anti-utopisch.
Es ist die Utopie, deren Möglichkeit in ganz kleinen Schritten liegt. Der Schritt selber ist schon das Ziel. Ich glaube nur an Veränderungen im Kleinen. Die sonstwohin zielende abstrakte Idee von der besseren Welt ist für mich spätestens durch das zwanzigste Jahrhundert ad absurdum geführt. Die Utopie im Munde zu führen, das ist einfach, und es ist blanke Faulheit. Weil solch ein Pathos nichts kostet. Aber gemeinsam mit den Menschen etwa der eigenen Familie, des eigenen überschaubaren Lebenskreises sehr konkret und zwar möglichst gut und gütig zusammenzuleben – das ist doch die wahre Prüfung. Dort ist die Entscheidung gefragt, ob ich Ja oder Nein sage, ob ich streite oder mich ducke, ob ich zustimme oder mich wehre. Dort entsteht die Gegenwelt zur Welt der kalt erwirtschafteten Rendite, zur Verdummung durch Politik, zur Entwürdigung des Menschen als gehetzter Leistungsidiot. Die Feigheit vor anderen schafft Sklaven, die Hoffnung in den Andern schafft Narren. Zweitere sind die wahren Menschen.

Peter Sloterdijk sprach von den Kräften des Sphärischen, die unser Leben weit eher und nicht weniger bestimmen als das Soziale.
Auf der Bühne interessiert mich, wie die Energien zweier oder mehrerer Menschen aufeinander zurasen. Was entsteht daraus? Wer ist man nach dem Zusammenprall? Das ist sie, die Magie des Moments – den wir im realen Leben doch auch immer wieder spüren. Das kann unser Leben doch entscheidender durcheinanderwirbeln als die Frage, ob irgend ein Land endlich UNO-Mitglied wird. Und das Theater kann, durch seine Unmittelbarkeit, von diesen Energien erzählen wie keine andere Kunst.

Ist das, was Sie sagen, nicht doch eine Abkehr von der großen Welt, von dem groß Gedachten der sogenannten Klassiker?
Angst zum Beispiel haben wir auf dem Feld der Familien, der Partnerschaften, der Arbeitszusammenhänge. Dort zeigt sich, wer wir sind. Dort brechen Welten auf oder zusammen. Natürlich geht es auch im Theater darum, über einen Ist-Zustand hinwegzudenken, ihn weiterzudenken ins Bessere. Aber man muss das, ich wiederhole mich, in den sogenannten und nur scheinbaren geringen Dingen tun. Das Lokale anzugehen, das ist doch das Schwierigste. Zukunftspolitik ist Arbeit da, wo ich bin. Da ist der Hebel anzusetzen zur Veränderung der Welt. Wir haben keinen verlässlichen Sinn für Zukunft, wir haben nur einen Sinn für Erfahrungen, die weiteretzählt werden können.

Gehören Sie einer desillusionierten Generation an?
Nein, einer befreiten Generation gehöre ich an. Ich fühle mich entlastet, unberührt vom Pathos des Ideologischen. Wir sind im Realismus angekommen. Was andere als Verlust ansehen, empfinde ich als Glück. Wie ich auch Lust am Unerklärlichen habe, das gerade dort entsteht oder bleibt, wo Menschen, eben auch in einer Theaterszene, um Klarheit ringen.

Aber Sie müssen diese Klarheit nicht immer erreichen?
Mich interessieren Graustellen, Nebelfelder. Sie sollen bleiben, auch in einer Inszenierung. Sie machen das Theater lebendig, nehmen es heraus aus dieser Bequemlichkeit der Absprachen, die alles ungesund absichern. Spiel muss sich immer selber gefährden, wenn es leben soll.

Ab wann wussten Sie: Ich muss ans Theater?
Relativ früh. Als Dreizehnjähriger war ich in Stuttgart schon Statist an der Oper und im Ballett. Mit sechzehn verbrachte ich schon an die zwanzig Abende im Monat im Theater. Es war die berauschende Zeit des jungen, wilden Peymann.

Sie betreten ein Theater – was ist das Schönste?
Immer die leere Bühne, dieser offene Raum, der im Dunkel einen so weiten, auch unheimlichen, manchmal fast kosmischen Eindruck macht. Alles könnte passieren. Die Wände atmen einen Geist, den du herauslocken musst. Du spürst die Ballung von Energie. Das macht mutig und demütig zugleich.

War Ihre Familie dagegen, dass Sie Schauspieler wurden?
Natürlich. Aber irgendwann war ich ebenfalls dagegen (lacht). Ich fing an der Schauspielschule in München nämlich früh an, mich ins Gesamte einzumischen. Es war eine schwere Zeit, voller Depressionen, denn ich hielt eine Weile lang Sprache für Betrug und Lüge, ich akzeptierte nur reines Körper-Theater, verfiel dann auf die Konsequenz, bloß noch eigene Texte sprechen zu wollen – das sind logischerweise Dinge, die an einer Schule schwer zu vermitteln und zu leben sind. Ich war unglücklich, aber das Unglück verdrängte doch nicht diese, ja: Verzückung, die ich für Theater empfand. Also ging ich runter von der Bühne, setzte mich hin und guckte zu.

So kann man Regie auch definieren. Haben Sie einen Regiestil?
Nein. Ich finde es grausam, wenn ich an allen Schauspielern einer Inszenierung den Regiestempel sehe. Schön, wenn jeder was anderes kann und dieses jeweils Ureigene auch zu sehen ist. Nichts ist schöner als Uneinheitlichkeit. Das ist dann auch Teil jener Nebelfelder in einer Aufführung, über die wir sprachen.

Sie gingen nach der Schule ins Off-Theater. Holland. Merkwürdig.
Ich verliebte mich in eine holländische Schauspielerin. So einfach. Das Leben selber war nicht einfach. Es ist schwer, sich da durchzuschlagen, zudem als Fremder. Im Gegensatz zum deutschen Stadttheater ist die freie Truppe in den Niederlanden der Nerv des Theaters, und Truppe heißt wirklich: Gemeinschaft.

Eine Zeit der Abhärtung?
Nein, eher eine Zeit des ungebrochenen Enthusiasmus.

Theater ist Ihr Leben!
Probenarbeit ist Freude, schön sind selbst Krisen, gerade Krisen. Sie sind Umschlagpunkte. Man muss nur aufpassen, dass man auch auftankt. Sonst wird man kurz angebunden der Welt gegenüber. Aber ansonsten kann ich sagen: Theater nimmt mir fast alle Zeit, aber verdoppelt mein Leben.

Wie denken Sie über Erfolg?
Ich staune ihn an. Mit was für tollen Schauspielern ich arbeiten darf! Wichtig ist, dass ein Erfolg mehr nicht dazu verführt, von nun an eine Hoffnung weniger zu haben.

Stimmt es, dass Sie gern Bildhauer geworden wären?
Ja. Michelangelo sagte, an einen riesigen Marmorblock dürfe man nicht mit einer Idee herangehen, man müsse einfach nur beginnen, an ihm zu arbeiten – das Material werde bald offenbaren, was es für eine Gestalt annehmen möchte. Das hat mich fasziniert: das verschlossene Holz, der verschlossene Stein, darin Ausdrucksenergien, für die man quasi Geburtshelfer ist.

Welches Bild Ihrer Kindheit geht Ihnen spontan durch den Kopf?
Wir wohnten in Stuttgart am Rand, wo es aus der Kessellage steil hinauf in den Wald geht. Wenn es regnete, lief ich wahnsinnig gern barfuß hinaus, nur mit T-Shirt, würde man heute sagen, rannte den Hang hinauf, und fühlte das Hemd an mir kleben und dachte: Wie schön es doch ist, auf der Welt zu sein! Als vor Wochen der Winter begann, saß ich lange, sehr lange am Fenster und sah den Schneeflocken zu. Ein Wunder! In der Natur wächst der Traum von der ewigen Unreife. Man möchte Kind geblieben sein.

Kann man aus Glück heraus Kunst produzieren?
Ja. Wenn man damit das Glück meint, aus großer Not an der Welt doch einen gestalterischen Weg zu finden, von dieser Welt wegzukommen, sie loszulassen, für Momente der Selbststeigerung.

Denken Sie über den Tod nach?
In meiner dunklen Zeit, zwischen zwanzig und dreißig, dachte ich viel daüber nach. In dieser entsetzlichen Phase hatte ich einen wiederkehrenden Traum, der mir wie eine Rettung vorkam, und obwohl er lächerlich anmutet, glaube ich diesem Traum: Ich werde 84 Jahre alt, bis zum 79. Lebensjahr inszeniere ich, und meine wirklich guten Aufführungen entstehen, wenn ich weiße Haare habe.

Warum lachen Sie?
Ich bin schon ganz verzweifelt. Meine Haare bequemen sich nicht mal, ein wenig grau zu werden.

Interview: Hans-Dieter Schütt

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