Streitfrage: Braucht Euro-Land eine Wirtschaftsregierung?

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2010 war für die Europäische Union ein Krisen-Jahr: Griechenland und Irland steckten tief in der Rezension. Das Staatsdefizit in Irland war so gewaltig, dass das Land unter den 750-Milliarden-Rettungsschirm der EU kriechen musste. Der Schirm soll nach Vorstellungen der EU-Kommission und einiger Staaten noch aufgestockt werden. Auch die Gemeinschaftswährung der Union, der Euro, war im vergangenen Jahr mächtig auf Talfahrt. Nachdem sich der Euro in jüngster Vergangenheit stabilisiert hat, wird laut über eine stärkere wirtschaftspolitische Koordinierung auf europäischer Ebene nachgedacht, um Krisen wie 2010 zu verhindern.

Merkels fragwürdige Exportschlager

Von Andreas Wehr

In der EU gibt es seit den Maastrichter Verträgen eine Wirtschafts- und Währungsunion. Sie ist Grundlage der gemeinsamen Währung Euro. Damit existiert zwar eine gemeinsame Währungspolitik, doch eine gemeinsame Wirtschaftspolitik gibt es nicht. In einem Kommentar zum EU-Recht heißt es: »Der Errichtung einer Wirtschaftsunion wurde vergleichsweise geringe Bedeutung geschenkt.« Genau das ist das Problem: Wie soll eine gemeinsame Währung funktionieren, wenn sie nicht auf einer abgestimmten gemeinsamen Wirtschaftspolitik beruht?

Das Fehlen dieser Wirtschaftsunion ist die eigentliche Ursache für wachsende Spannungen innerhalb des Euro-Raums. Die Wettbewerbsvorteile der Konzerne aus den kerneuropäischen Staaten, und hier vor allem die des langjährigen Exportweltmeisters Deutschland, stehen in einem scharfen Kontrast zur Schwäche derer aus den Peripheriestaaten. Die Unternehmen Griechenlands, Portugals, Spaniens und auch Italiens fallen im erbarmungslosen Rennen um Profite und Marktanteile immer weiter zurück. Da diese Euro-Staaten zum Schutz ihrer Volkswirtschaften nicht mehr auf das Instrument der Abwertung einer eigenen Währung zurückgreifen können, verstärken sich die Spannungen.

Kritiker des Euro haben dies vorausgesehen. Eine gemeinsame Währung ohne staatlichen Unterbau kann auf Dauer keinen Bestand haben. Bei der Entscheidung über den Euro in den neunziger Jahren war denn auch gefordert worden, dass die kerneuropäischen Staaten zumindest einen Ausgleich ihrer Handels- und Leistungsbilanzen anstreben müssten. Dies ist aber nicht geschehen. Vor allem die deutschen transnationalen Unternehmen sehen den EU-Binnenmarkt lediglich als Heimatmarkt, von dessen Basis aus sie den erfolgreichen Kampf um die Herrschaft auf den Weltmärkten führen können.

Wie kann aber eine Konvergenz der Wirtschaftsleistungen hergestellt werden? Hier wird immer wieder auf die Notwendigkeit einer europäischen Wirtschaftsregierung verwiesen. Die Partei DIE LINKE unterstützt diese Forderung, etwa in ihrem Europawahlprogramm 2009. Was die Kompetenzen einer solchen Wirtschaftsregierung angeht, so geht es mindestens um Entscheidungen über die Steuer- und Haushaltspolitiken, verschiedentlich wird auch die Abstimmung der nationalen Arbeitsmarkt- und Industriepolitiken gefordert. Klar ist bei all dem, dass hier neue vertragliche Grundlagen der EU gefordert wären, denn es handelt sich hier um Kernkompetenzen der Mitgliedstaaten, die mittels einer solchen Wirtschaftsregierung zukünftig auf europäischer Ebene geregelt werden sollen.

In der gegenwärtigen Eurokrise wurde von Paris die Schaffung einer Wirtschaftsregierung für die Euro-Staaten ins Spiel gebracht. Dies wurde umgehend von der Bundesregierung zurückgewiesen. In einer Grundsatzrede bestand Kanzlerin Merkel darauf, dass »der EU-Finanzministerrat, der alle 27 Mitgliedsländer vertritt, weiterhin eine entscheidende Rolle bei der Koordinierung der europäischen Wirtschaftspolitik spielen« müsse. Kurz und bündig erklärte sie, dass es eine europäische Wirtschaftsregierung längst gebe, und dies sei der Rat: »Wir sind die Wirtschaftsregierung«.

Damit hat der Begriff Wirtschaftsregierung eine neue, völlig veränderte Bedeutung erhalten. Aus einer Forderung zur Schaffung höherer Konvergenz und tieferer europäischer Integration ist ein hegemoniales Herrschaftsinstrument zur neoliberalen Kontrolle der gesamten EU geworden. Und tatsächlich kann die deutsche Bundesregierung darauf verweisen, dass eine solche europäische Wirtschaftsregierung zumindest in Ansätzen bereits existiert, denn erfolgreich wird die deutsche Agenda 2010 in die anderen EU-Staaten exportiert: Nach deutschem Vorbild wird in Griechenland, Portugal, Irland und Frankreich das Renteneintrittsalter auf zumindest 67 Jahre angehoben. Und wie hierzulande kürzen EU-Staaten die Leistungen für Langzeitarbeitslose drastisch. Ein weiterer deutscher Exportschlager soll nun die Schuldenbremse werden. Die härtesten sozialen Kürzungsprogramme wurden Griechenland, Irland aber auch Rumänien, Ungarn und Lettland als Auflagen für die ihnen gewährten Finanzhilfen auferlegt. Dagegen wehren sich dort Gewerkschaften und linke Parteien. Deshalb steht gegenwärtig die Verteidigung der sozialen Errungenschaften der unter Druck geratenen Defizitstaaten gegen eine rechte Wirtschaftsregierung mit Sitz in Berlin und Brüssel auf der europäischen Tagesordnung.

Andreas Wehr, Jahrgang 1954, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL) im Europäischen Parlament. Zuletzt veröffentlichte er das Buch: »Griechenland, die Krise und der Euro«. www.andreas-wehr.eu

Zwei Seiten einer Euro-Medaille

Von Alexis Passadakis

Seit dem Beginn der Euro-Krise im Mai 2010 erleben wir eine neue dramatische Dynamik der EU-Integration. Dies ist durchaus überraschend. Zur Erinnerung: Die sogenannte EU-Verfassung scheiterte bei dem Referendum in den Niederlanden und mit dem »Non!« in Frankreich im Jahre 2005 spektakulär. Anschließend konnte der an sie angelehnte Vertrag von Lissabon nur nach der Wiederholung eines zuvor gescheiterten Referendums in Irland Ende 2009 in Kraft treten.

Alles deutet darauf hin, dass diese EU mehrheitlich in Europa nicht gewollt ist. Eine Integrationspause war daher zu erwarten. Stattdessen treiben nun die Finanzmärkte mit rasender Geschwindigkeit eine neue Phase der EU-Integration voran. Denn mit der Finanzkrise haben sie de facto den Ausnahmezustand ausgerufen: Die lückenhafte Konstruktion von Euro und EU kann die profitable Verwertung des (fiktiven) Kapitals von Banken und anderen Finanzakteuren nicht mehr gewährleisten. Insbesondere der Ausfall von Staatsanleihen bedroht die Solvenz der Bankkonzerne.

Unter Hochdruck schaffen die Regierungen nun neue Institutionen: zunächst den sogenannten Euro-Rettungsfonds (ESFS), um die Banken vor Verlusten zu schützen. Und jetzt den dauerhaften EU-»Stabilitätsmechanismus« (ESM). Zudem wird EU-weit Sozialabbau orchestriert, um die Zahlungen an die privaten Kreditgeber nicht zu gefährden. Zu diesem Zwecke wurde auch der Internationale Währungsfonds (IWF) – insbesondere auf Druck von Kanzlerin Angela Merkel – in den Euro-Raum geholt.

Dieser ist nun bar jeglicher demokratischer Legitimation Teil der EU-Architektur. Eine Troika aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und IWF beschränkt nun in Irland und Griechenland erheblich die parlamentarische Demokratie, um Kürzungen im Sozialbereich durchzudrücken. Der gegenwärtige Sog der EU-Integration ist Element der neoliberalen Restauration, nachdem die Krise den herrschenden Block kurzzeitig durchgeschüttelt hatte. Das Zwischenergebnis: Eine sich beschleunigende Machtkonzentration zugunsten von EU-Gremien ist zu beobachten.

Dieser Prozess soll nach dem Willen von Wolfgang Schäuble, Nicolas Sarkozy u. a. schrittweise durch eine EU-Wirtschaftsregierung weiter institutionell abgesichert werden. Dass bei dieser Konstellation in links-liberalen und bisweilen auch linken Kreisen die Forderung einer EU-Wirtschaftsregierung – wenn auch unter sozialen Vorzeichen – und damit einer weiteren Machtverlagerung das Wort geredet wird, ist deshalb fatal.

Wer angesichts der neuen neoliberalen Integrationsdynamik mehr Macht für EU-Gremien fordert, erweist der europäischen Idee einen Bärendienst. Mehr EU heißt dann nämlich mehr Nationalismus. Denn als Gegentendenz zur Machtverlagerung in den transnationalen Raum und zur Entdemokratisierung gewinnt rechte EU-Skepsis an Boden. Mehr EU-Integration und Renationalisierung sind deshalb im Hier und Jetzt kein Widerspruch, sondern die zwei Seiten einer Medaille. Das hängt damit zusammen, dass die EU seit Mitte der 80er Jahre im Kern ein Projekt der Konzerne ist, mit dem Resultat massiver sozialer Spaltung. Demgegenüber sind soziale Erfolge auf europäischer Ebene bisher äußert dünn gesät. Die Mobilisierung sozial progressiver Interessen stößt bisher auf nur schwer zu überwindende Hindernisse, wie geringe Ressourcen und weitgehend getrennte nationale Öffentlichkeiten. Wenn auch gewünscht, transnationale Politik von unten wird auf mittlere Sicht schwach bleiben.

Selbstverständlich ist es auch aus linker Sicht notwendig, die Konstruktion von Euro-Zone und EU zu verändern, um die Folgen der Krise zu bewältigen und zudem ihre Ursachen zu beseitigen. Notwendig sind: die Erhöhung von Transferleistungen von den Überschussländern wie Deutschland in die Defizitländer; die Finanzierung der Staaten mit niedrigen Zinsen durch die Europäische Zentralbank, anstatt sie den Finanzmärkten auszuliefern; der langfristige Abbau der ökonomischen Ungleichgewichte innerhalb der EU mittels einer intensiveren Koordinierung der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Ein europäischer Mindestlohn wäre dafür eine erste Etappe.

Einige dieser Schritte sind im Rahmen der existierenden Mechanismen prinzipiell möglich – ohne dass Brüssel mehr Entscheidungsbefugnisse bekommt. Andere erfordern institutionelle Veränderungen. Hier sollte das Prinzip gelten, dass Prozesse behutsamer Kompetenzerweiterungen der europäischen Ebene durch eine Erweiterung demokratischer Spielräume ausbalanciert werden müssen. Insbesondere gilt es, den Binnenmarkt mit seiner Konkurrenzorientierung, das Kernprojekt der neoliberalen EU, zurückzudrängen. Neue demokratische wirtschaftspolitische Spielräume auf lokaler und regionaler Ebene sind nötig, um sozial und ökologisch progressive Politik machen zu können.

Ohne eine solche Perspektive drohen linke Positionen in die Zange genommen und an den Rand gedrängt zu werden. Und zwar zwischen einer liberalen Strömung pro EU-Integration zugunsten der transnational orientierten ökonomischen Eliten und einer chauvinistischen Strömung. Dies ist bereits eine deutliche Tendenz – besonders in Osteuropa. Das Motto sollte stattdessen sein: demokratische Vertiefung und Solidarität statt EU-Integration.

Alexis Passadakis, 1976 geboren, ist Politikwissenschaftler und Mitglied im Koordinierungskreis des globalisierungskritischen Netzwerkes Attac.
Andreas Wehr
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