Für die nötige Infrastruktur selbst gesorgt
Als nach dem Hurrikan in New Orleans staatliche Hilfe ausblieb, leistete »Common Ground« wichtige Aufbauarbeit
In Ninth Ward, einem traditionell von Afroamerikanern bewohnten Stadtviertel von New Orleans, steht inmitten von Brachland ein doppelstöckiges, blau gestrichenes Haus, welches das Büro einer der unkonventionellsten Hilfsorganisationen der USA beherbergt: Common Ground Relief, das heißt in etwa »Hilfe auf gemeinsamer Grundlage«. Wenige Tage nach den vom Hurrikan Katrina im August 2005 verursachten Überschwemmungen wurde die Selbsthilfeinitiative gegründet. Heute liegt der Fokus der Organisation auf nachhaltiger Entwicklung in den ärmsten Vierteln der Stadt.
Über ein Jahr dauerte es, bis in Ninth Ward Elektrizität, Leitungswasser und die grundlegendsten städtischen Versorgungsdienste wieder hergestellt waren. Die Spuren der Verwüstung sind nach wie vor sichtbar: verlassene Häuser, leer stehende Grundstücke, Haufen von nie entsorgtem Gerümpel. Die meisten Bewohner sind noch immer nicht zurückgekehrt. Zum Teil fehlt das Geld, um die Häuser wieder instand zu setzen, zum Teil wird die Rückkehr aus Gesundheitsgründen untersagt. Immobilien sind wertvoll in Ninth Ward, nahe dem Stadtzentrum. Es gibt bittere Auseinandersetzungen zwischen Bürgerrechtsgruppen, die allen die Rückkehr ermöglichen wollen, und Firmen, die sich die »Modernisierung« des Viertels zum Ziel gesetzt haben.
Die Mitarbeiter von Common Ground Relief sind klar parteiisch: Sie setzen sich dafür ein, dass alle Menschen in ihre Wohnviertel zurückkehren können. Darüber hinaus wollen sie zu mehr Demokratie und Selbstbestimmung in den Stadtteilen beitragen, die seit Jahrzehnten von den Behörden vernachlässigt werden.
Solidarität, nicht Wohltätigkeit
Eines der Prinzipien, die Common Ground zu einem legendären Ruf in aktivistischen Kreisen Nordamerikas verholfen haben, ist die enge Zusammenarbeit mit der Bevölkerung. Projekte werden nicht angeboten, sondern mit den Menschen gemeinsam entwickelt. Dies wird in dem Motto »Solidarity, Not Charity« zusammengefasst. Zu den von Common Ground betriebenen Projekten zählen eine Rechtsberatung, ein Renovierungsbetrieb, berufliche Ausbildungsstellen und Gemeinschaftsgärten. Einige gegründete Projekte sind zur Gänze in die Verwaltung lokaler Kollektive übergegangen, wie eine medizinische Versorgungsstelle, ein Medienzentrum, ein Frauenhaus und eine Fahrradwerkstatt.
Die treibenden Kräfte hinter der Gründung waren Scott Crow, ein langjähriger anarchistischer Aktivist aus Austin, Texas, und der ortsansässige Malik Rahim, ein ehemaliger Black Panther.
Crow versuchte unmittelbar nach dem Brechen der Dämme, New Orleans zu erreichen. Er schlug sich gemeinsam mit einem Freund in einem eigenen Boot bis zu einer Lagerhalle nahe der Innenstadt durch. Als »unheimlich« beschreibt er diese Reise. Straßen und Brücken waren weggeschwemmt und Häuser dem Erdboden gleichgemacht. Obwohl Crow mit New Orleans gut vertraut war, fand er sich nicht mehr zurecht. Schließlich mussten er und sein Freund den Rückzug antreten. Die beiden waren zu schlecht ausgerüstet, um vor Ort Hilfe zu leisten, und zu unvorbereitet für die Überfälle und Schießereien, die New Orleans in jenen Tagen prägten.
Crow suchte daraufhin Malik Rahim auf, einen Bekannten, der in Algiers lebte, einem Viertel auf der nicht-überschwemmten Westseite des Mississippi-Flusses. Rahim war in den 1970er Jahren wesentlich am Aufbau der Black Panther Party in New Orleans beteiligt. Später engagierte er sich in zahlreichen Sozialprojekten und in der Grünen Partei. In Gefangenenhilfsprojekten hatten sich die beiden kennengelernt. Gemeinsam beschlossen sie nun, Rahims Erfahrungen aus der Black Panther Party für eine Selbsthilfeinitiative zu nutzen, die angesichts der ausbleibenden staatlichen Unterstützung vonnöten schien. Bereits die Black Panther hatten versucht, Armutsbekämpfung mit Selbstbestimmung zu verbinden: Ihre Arbeit konzentrierte sich auf konkrete Gemeinschaftsprojekte: Frühstücksprogramme für Schulkinder, Erwachsenenbildung, rechtliche Unterstützung in Mietfragen. Ähnliche Projekte schienen auch jetzt gefordert, um das Leben in New Orleans, vor allem in den vernachlässigten Vierteln der Stadt, bewältigen zu können.
Entstehung kollektiver Lebensformen
Zwei Dutzend Freiwillige begannen in Rahims Haus ein erstes Verteilungszentrum für Hilfsgüter und eine medizinische Versorgungsstelle einzurichten. Zusätzlich wurden Aufräumarbeiten in Gang gesetzt. Die ersten Wochen stellten für das Projekt eine große Herausforderung dar. Der Polizei waren die kooperationsunwilligen Aktivisten ein Dorn im Auge, Politiker fühlten sich von der Offenlegung ihres eigenen Unvermögens provoziert, und nach wie vor patrouillierten weiße Bürgerwehren in Algiers, um ihre Häuser gegen »Plünderer« zu verteidigen. Etwa einen Monat lang konnten die Common-Ground-Mitarbeiter Rahims Haus nur bewaffnet verlassen.
Nach einigen Wochen stabilisierte sich die Lage und die Aktivisten wuchsen auf mehrere Hundert an. Selbst die schärfsten Kritiker mussten eingestehen, dass Common Ground unverzichtbare Arbeit leistete. Als selbst die Massenmedien auf die »Graswurzelwiederaufbaubewegung« (Washington Post) aufmerksam wurden, strömten Tausende von freiwilligen Helfern nach New Orleans. Prominente wie Michael Moore, Bruce Springsteen und Sean Penn griffen der ausschließlich auf Spenden angewiesenen Initiative finanziell unter die Arme.
Ein Jahr nach seiner Gründung hatte sich Common Ground nicht nur in Ninth Ward und in anderen unterprivilegierten Vierteln von New Orleans etabliert, sondern auch in einer Reihe von Küstengemeinden in Louisiana, die weiterhin auf offizielle Unterstützung warteten. Common-Ground-Mitarbeiter waren früher als alle anderen Hilfsorganisationen in den indigenen Gesellschaften der Houma, Pointe-au-Chien und Biloxi Chitimaca.
Für Crow war Common Ground zu jener Zeit ein »revolutionäres« Projekt. Er verweist auf die Unabhängigkeit von institutioneller Unterstützung, auf die Bildung egalitärer Strukturen und auf die Rolle, die die Initiative im Alltagsleben ganzer Stadtviertel und Gemeinden einnahm. Das Argument, dass Common Ground letztlich »nur« Sozialhilfe leistete, lässt er nicht gelten: »Es gelang uns, funktionierende kollektive Zusammenhänge aufzubauen, die den Staat in Frage stellten. Wir machten den Schritt vom Protest zum Aufbau alternativer Lebensformen. Daran waren Tausende von Menschen beteiligt. Die Hoffnung, die das gibt, ist revolutionär.«
Mitte 2007 änderten sich die Bedingungen für das Projekt. Die langfristige Wiederaufbauarbeit wurde in New Orleans zunehmend wichtiger als die Soforthilfe. Common Ground wurde als offizielle Non-Profit-Organisation registriert und nahm eine konventionellere Struktur an, mit Aufsichtsrat und administrativer Aufgabenverteilung. Malik Rahim wurde Vorstandsmitglied. Scott Crow zog sich in seine Heimatstadt Austin zurück, um wieder Anschluss an die Genossenschaftsprojekte zu finden, in die er jahrelang involviert war. Außerdem begann er ein Buch über Common Ground zu schreiben: »Black Flags and Windmills: Hope, Anarchy, and the Common Ground Collective« soll noch in diesem Jahr erscheinen.
Für viele Aktivisten bleibt Common Ground ein Modell für die Zukunft. Zwei von ihnen, Randall Amster und Leenie Halbert, lernten sich einige Wochen nach Katrina in einem von den Veterans for Peace in der Nähe von New Orleans errichteten Zeltlager für Flüchtlinge aus der Stadt kennen. Sie beschlossen, Halberts Haus in Ninth Ward wiederaufzubauen und in das erste Common-Ground-Verteilungszentrum des Viertels zu verwandeln. In ihren Augen ist die von der Organisation demonstrierte Zusammenarbeit von Aktivisten und der Bevölkerung vor Ort für zukünftige Sozialprojekte richtungsweisend.
Common Ground mag heute die Staatsordnung nicht mehr in Frage stellen, doch ist es in New Orleans ein nach wie vor besonderes und viel geschätztes Projekt. Nicht zuletzt dank Common Ground gilt Ninth Ward als Modell für einen sozial gerechten Wiederaufbau der Stadt. Amster und Halbert berichten von Menschen, die vor kurzem wieder in ihre Häuser im Viertel einziehen konnten. Sie meinen, dass dies ohne die fortwährende Hilfe von Common Ground nie möglich gewesen wäre. Manchmal kommt die Revolution in kleinen Schritten.
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