Beunruhigender Spitzenplatz

Bayern weist die höchste Suizidrate auf

  • Rudolf Stumberger, München
  • Lesedauer: 3 Min.
Auf 100 000 Einwohner Bayerns kamen im Jahr 2009 im Durchschnitt 12,9 Suizide. Das sind mehr als in jedem anderen Bundesland. Aber warum das so ist, darüber rätseln die Experten.

Bayern sieht sich sonst immer gern an der Spitze: Bei der Beschäftigungsrate, in der Fußball-Bundesliga, bei Wissenschaft, Technologie und Umweltschutz. Um so verstörender sind die Ergebnisse einer düsteren Statistik: Auch bei der Zahl der Selbsttötungen liegt der Freistaat im bundesweiten Vergleich ganz vorn – und das schon seit Jahren. 2009 kamen in Bayern auf 100 000 Einwohner 12,9 Suizide, das entspricht 1749 Selbsttötungen. Der bundesdeutsche Durchschnitt lag hingegen bei 10,6 Suiziden je 100 000 Einwohner.

Nach Bayern folgen Sachsen-Anhalt (12,6), Thüringen (12,4), Sachsen (12,3) und Baden-Württemberg (12,1). Die Länder mit der geringsten Häufigkeit von Selbsttötungen waren Berlin (7,5), Nordrhein-Westfalen (8,5), Niedersachsen und Brandenburg (jeweils 8,9) sowie Rheinland-Pfalz (9,5). Insgesamt ging die Zahl der Suizide bundesweit in den vergangenen Jahren aber deutlich zurück. 1990 zählte die Statistik noch 13 924 Fälle gegenüber 9616 Fälle im Jahr 2009. Auch in Bayern sank die absolute Zahl der Selbsttötungen in diesem Zeitraum, und zwar um fast 40 Prozent.

Der Religions-Faktor

Warum aber dennoch im wohlhabenden Bayern bundesweit die meisten Suizide gezählt werden und im vergleichsweise »armen« Berlin die wenigsten, ist unklar. »Die Suizidrate in Bayern liegt seit Anfang der 1990er Jahre etwas über dem Bundesdurchschnitt. Das gilt inzwischen für praktisch alle Altersgruppen. Die Ursachen dafür sind nicht bekannt«, so das bayerische Gesundheitsministerium. Zwar ist für prekäre Lebenslagen wie Arbeitslosigkeit oder Wohnungslosigkeit ein erhöhtes Suizidrisiko nachgewiesen. Doch Bayern hat die geringste Arbeitslosenrate aller Bundesländer und in kaum einer anderen Region ist der Wohlstand größer.

Mit 4,2 Prozent war 2009 der Anteil der Hartz IV-Bezieher in Bayern bundesweit am geringsten, mit 18,6 Prozent in Berlin am höchsten. So schreibt das bayerische Gesundheitsministerium in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage einer SPD-Abgeordneten auch: »Es gibt keinen erkennbaren Zusammenhang zwischen den Suizidraten und der sozioökonomischen Situation der Landkreise und kreisfreien Städte.«

Laut Theorie müsste im agrarischen Bayern mit seinen großen katholisch geprägten Landesteilen zudem die Selbstmordrate eigentlich niedriger sein als in Regionen ohne diese Prägung. So meint der Leipziger Historiker Udo Grasshof, die im Vergleich zu Westdeutschland doppelt so hohe und verschwiegene Suizidrate der DDR habe weniger mit dem politischen System als mit der protestantischen Tradition vieler ostdeutscher Landstriche zu tun gehabt – die DDR habe die hohen Suizidraten quasi »geerbt«. Diese habe es auf dem entsprechenden Territorium bereits im 19. Jahrhundert gegeben.

Demgegenüber seien in katholisch geprägten Gebieten generell weniger Selbsttötungen, die dort als Todsünde gelten, zu verzeichnen, so Grasshof. Klar ist jedenfalls, dass seit Beginn der Aufzeichnungen im 19. Jahrhundert die ostdeutschen Länder immer außergewöhnlich hohe Suizid-Raten aufwiesen.

Zuzüge aus dem Osten

Generell sind Männer gefährdeter als Frauen, auch in Bayern entfallen drei Viertel aller Suizide auf Männer. Bei ihnen nimmt vor allem mit zunehmenden Alter die Suizidrate zu, was auf Kontaktverlust, Vereinsamung, Depressionen oder schwere Krankheiten zurückzuführen ist. Suizide bei Jugendlichen und Erwachsenen nach Verkehrsunfällen sind die zweithäufigste Todesursache.

Warum das wohlhabende, konservative, zu großen Teilen katholische Bayern diese bundesweit höchste Suizidrate verzeichnet, ist für die Experten also ein Rätsel. Doch es gibt Erklärungsversuche wie jenen Zeitungskommentar in der »Süddeutschen Zeitung«. Dort wird zunächst konstatiert, wenn ein reiches Land wie Bayern seit Jahren mit die höchste Suizidrate habe, so sei das »beunruhigend«. Und: »Der Druck, in diesem Vorzeigeland auch ein Vorzeigeleben zu führen, ist stark.«

Nicht jeder kann dabei mithalten. So mancher ist schon von München nach Berlin gezogen, wegen der geringeren Lebenshaltungskosten dort. Andererseits sind in den vergangenen 20 Jahren mehr als eine halbe Million Menschen, genauer gesagt 614 230, aus den östlichen Bundesländern mit traditionell eher hohen Suizidraten nach Bayern eingewandert, die meisten davon aus Sachsen und Thüringen. Aber auch hier ist unklar, ob dies eine Rolle spielen könnte.

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