Nach der Party beginnt der Neuaufbau
Der Tahrir-Platz am Tag Eins ohne Mubarak
»Entschuldigen Sie die Störung, wir bauen Ägypten wieder auf.« Viele der jugendlichen Helfer, die am Tag Eins ohne Mubarak auf und um den Tahrir-Platz in Kairo die Besen schwingen, haben sich Schilder angeheftet, auf denen ihr Verhalten erklärt wird. »Gestern war ich Demonstrant, heute baue ich Ägypten neu auf«, heißt es auf einem anderen Schild. Schon vor dem Sturz des ägyptischen Präsidenten hatten die Demonstranten die Öffentlichkeit über ihr Vorhaben aufgeklärt. »Sobald der Präsident zurückgetreten ist, werden wir hier eine große Party veranstalten und dann werden wir aufräumen«, sagte ein junger Mann vor einer Woche.
Aller Unrat soll verschwinden
Die Demokratiebewegung in Ägypten meint es ernst. In der Nacht nach dem Rücktritt Husni Mubaraks hatte man bis in die Morgenstunden gefeiert, am Sonnabend strömten die Putzbrigaden aus allen Teilen der Stadt zusammen und begannen mit dem Aufräumen. Da wurde gefegt und geschaufelt, Decken und Zeltplanen wurden eingerollt, Pflastersteine, die zur Verteidigung gegen die staatlichen Schlägertrupps ausgegraben worden waren, wurden wieder eingesetzt, Graffiti an Hauswänden und auf Denkmälern entfernt, die Bordsteine neu bemalt, sogar die öffentlichen Toiletten in den Metro-Anlagen wurden von Fachleuten neu gefliest und repariert.
Abschleppunternehmen zogen Bus- und Autowracks fort, die die Demonstranten zu Verteidigungsanlagen aufgetürmt hatten, Bleche und Gitter, die von der nahe gelegenen Baustelle entfernt worden waren, wurden wieder zurückgebracht.
Durch SMS-Botschaften hatten Freunde und Verwandte einander von dem großen Aufräumen informiert, nicht nur, um den Müll der Proteste und Kämpfe zu entfernen, sondern auch um symbolisch zu zeigen, dass man entschlossen ist, das Land vom Unrat des alten Regimes zu säubern.
»Unwissenheit, Armut, Krebs, Ausplünderung, Korruption, Lüge und Unterdrückung habt ihr uns gebracht«, heißt es auf einem großen Transparent, das noch immer auf dem Platz hängt. Es zeigt die Gesichter Husni Mubaraks und der Mitglieder seiner Regierung, von denen etliche inzwischen unter Hausarrest stehen. Das Gesicht Mubaraks ist rot durchgestrichen.
Familien und Freunde, junge und alte Paare, Generationen streifen über den Tahrir-Platz, der wie ein einziges großes Lachen erscheint. »Gottseidank haben wir Ägypter unsere Ehre wieder«, sagt eine alte Frau, die – auf einen Stock gestützt – von ihrer Tochter und Enkeltöchtern herumgeführt wird. Überall wird fotografiert und gefilmt, ungläubig beobachtet eine große Menge von der Brücke des 6. Oktober die Putzbrigaden. Vor Tagen noch hatten dort Kämpfe Tote und Verletzte gefordert. Die Bilder der Opfer hängen an Hauswänden und zwischen Straßenlaternen, einige verharren davor im stillen Gebet, andere fotografieren.
Die Soldaten haben ihre Panzer zur Seite gefahren, die Kanonenrohre sind mit Tüchern abgedeckt, die Maschinengewehre abgebaut. Entspannt sitzen sie mit Kindern und Jugendlichen auf den Panzern, posieren endlos für Fotos, nehmen Blumen, Wasser und Süßigkeiten in Empfang. »Wir sind gekommen um Blumen für die Getöteten zu bringen«, sagt ein Ehepaar mittleren Alters, das mit leuchtenden Augen das Geschehen beobachtet. Am Freitag hätten sie sich noch große Sorgen gemacht, ob es ein Blutbad geben könnte, nachdem Mubarak sich erneut geweigert hatte zurückzutreten. Erstmals in seinem Leben spüre er Freiheit, sagt der Mann, der mit seiner Frau zum ersten Mal auf den Tahrir-Platz gekommen ist. Der Sohn sei seit dem 25. Januar jeden Tag dort gewesen, er habe ihnen berichtet, sie seien in großer Sorge gewesen. »Es wird zehn Jahre dauern, bis wir das Land wieder aufgebaut haben«, sagt der Mann, der seinen Namen nicht nennen möchte. Sie hofften, dass Mubarak zur Rechenschaft gezogen wird, zumindest das viele Geld, das er, seine Frau, seine Familie gestohlen hätten, müssten sie zurückgeben. »Die Ägypter sind freundliche Menschen«, fügt seine Frau hinzu, »und die Ärmsten von uns sind am freundlichsten.«
»Das Militär kennt unsere Forderungen«
Sherif Mickawi, einer der Organisatoren, ist überglücklich über die Entwicklung und glaubt fest daran, dass das Militär auch weiter an der Seite des Volkes stehen wird. »Noch vertrauen wir ihnen«, sagt er mit heiserer Stimme. Egal was geschehe, »wir wissen, was wir wollen und auch, wie wir es erreichen werden«. Noch habe die Bewegung niemanden gewählt, wer immer für die Opposition angebe zu reden, spreche nur für sich selber. »Wir haben unsere Forderungen dem Militär mitgeteilt«, sagt Mickawi selbstbewusst: Auflösung des Parlaments, Aufhebung des Ausnahmezustands, Ernennung eines Präsidialrates, der eine Regierung von Technokraten einsetzt, bis zu den Wahlen. »Wenn sie das nicht umsetzen, werden wir wiederkommen«, verspricht Mickawi, und das Militär wisse das.
»Unsere Revolution ist der Prototyp für andere Länder. Kein Regime in der Region, kein ausländischer Geheimdienst hat das hier vorhergesehen. Wir haben alle Regeln gebrochen.«
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